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Archiv-Artikel

Die Gesichter des Mietprotests

RÄUMUNG Als die Familie Gülbol ihre Wohnung verlor, wurde sie zum Symbol der Verdrängung. Ein Besuch ein Jahr danach

„Das sind Menschen, die diese Entwicklung vorantreiben, und was Menschen machen, kann man auch ändern“

ALI GÜLBOL

TEXT JULIANE SCHUMACHER FOTOS DAVID OLIVEIRA

Ihre alte Wohnung ist wieder vermietet, das Zuhause, das einmal das der Gülbols war. 16 Jahre lang haben Ali Gülbol, seine Frau Necmiye und ihre drei Kinder in der 116 Quadratmeter großen Wohnung in der Lausitzer Straße Nummer 8 gewohnt. Bis zum 14. Februar 2013.

Den Tag, sagt Necmiye Gülbol, wird sie den Rest ihres Lebens mit sich schleppen. „Ich bin nach hinten gegangen und habe vom Balkon geschaut – zehn Polizeiwagen. Ich bin nach vorne gegangen, habe auf die andere Seite geschaut: Polizeiautos, die ganze Straße lang.“ Ein Jahr später dringt immer noch Fassungslosigkeit durch ihre Worte. „Ein Hubschrauber über uns, das ganze Treppenhaus voll Polizisten. Meine Güte, dachte ich, haben wir jemanden umgebracht, eine Leiche im Keller?“

Protestler ausgetrickst

Aber es ging nicht um Mord, sondern um ihre Wohnung. Am 14. Februar 2013 wurden die Gülbols zwangsgeräumt. Vorausgegangen war ein jahrelanger Gerichtsstreit mit dem Hausbesitzer, der sich nicht an Abmachungen gebunden sah, die Ali Gülbol mit dem vorherigen Besitzer getroffen hatte: Gülbol hatte die Wohnung renoviert, dafür sollte die Miete nicht steigen.

Das Gericht gab dem Eigentümer recht. Die Gülbols wollten nicht aufgeben, schlossen sich dem Bündnis gegen Zwangsräumungen an. Weil ihr Fall kein Einzelfall war, weil er für viele andere Fälle von Verdrängung langjähriger Mieter stand, wurden sie zum Symbol einer Entwicklung auf dem Wohnungsmarkt.

Die erste Räumung konnte durch Proteste vor dem Haus verhindert werden. Auch am 14. Februar hatten rund 1.000 Menschen den Eingang blockiert. Die Polizei rückte mit über 800 Beamten an – und trickste die Demonstranten aus: Die Gerichtsvollzieherin ließ sich ins Haus schleusen, als Polizistin verkleidet. Dann nahm sie den Gülbols den Schlüssel ab.

Ein Jahr später sitzen Ali und Necmiye Gülbol in der Küche – im selben Haus, aber in einer anderen Wohnung. Nach der Räumung sind sie zu seinen Eltern gezogen, zwei Stockwerke höher. Ali Gülbol ist hier geboren, er hat sein ganzes Leben in diesem Haus gelebt. Im Flur stehen viele Schuhe, zu siebt wohnen die Gülbols seit einem Jahr auf 110 Quadratmeter.

Ali Gülbol, der Malermeister, sucht seit der Räumung eine Wohnung im Kiez. „Aussichtslos“, sagt er. Er ist ein gefasster Mann, einer, der nachdenkt, bevor er spricht.

Rundum, erklärt er, stünden die Menschen vor demselben Problem. In der Reichenberger Straße sei vor wenigen Tagen eine Räumung knapp verhindert worden, neun Mietparteien aber seien bereits ausgezogen.

Im Haus gegenüber müsse in Kürze wohl die Hausärztin der Familie ausziehen, die dort seit Ewigkeiten ihre Praxis betreibt – der neue Vermieter verlange die doppelte Miete.

Auch in ihrem Wohnhaus habe sich die Stimmung verändert. In ihre frühere Wohnung wollten schon im September Studenten einziehen, „sympathische Leute“, sagt Gülbol. Als sie von der Zwangsräumung erfahren hatten, holten sie die ersten Möbel gleich wieder ab, ohne eingezogen zu sein. Die Studenten-WG, die seit Dezember dort wohnt, hat die Geschichte nicht interessiert. Zu ihnen gebe es keinen Kontakt, sagt Gülbol. Auf der Straße kleben nun Plakate der Kampagne gegen Zwangsumzüge: „Wir werden euch nicht in Ruhe lassen“, steht darauf. „Ihr profitiert vom Elend anderer.“

Die Stimmung im ganzen Kiez habe sich verändert, hat Ali Gülbol beobachtet. Sie sei gedrückter, viele Menschen seien depressiv. „Die Leute haben Angst. Sie mindern die Miete nicht, rufen auch bei Problemen den Vermieter nicht an. Jeder weiß, dass es auch ihn treffen kann.“ Ali Gülbol ist weiterhin aktiv in der Kampagne gegen Zwangsräumungen, er kennt sich aus, hat viele andere kennengelernt, die in einer ähnlichen Situation stecken. Protestieren, sich wehren – das sieht er noch immer als einzige Möglichkeit, mit der Situation umzugehen. „Wir haben Pech gehabt“, sagt er. „Aber wenigstens hat unsere Räumung viele andere Räumungen verhindert.“ Die Medienberichte und Proteste hätten zu einem neuen Bewusstsein für die Schicksale von Menschen geführt.

Die Verdrängung im Kiez – das Thema beherrscht inzwischen alles in der Familie. Die Räumung, der Tag, um den sich alles dreht. Als wäre die Geschichte an diesem Tag stehen geblieben.

Auch ein Jahr später treten Necmiye Gülbol Tränen in die Augen, wenn sie davon spricht. Manchmal schüttelt sie den Kopf, als könne sie noch immer nicht glauben, dass sie nicht mehr in ihrer Wohnung lebt, sondern bei den Schwiegereltern. Auch gegen sie hat der Vermieter schon einmal geklagt wie gegen fast alle im Haus.

„Die Räumung hat unser Leben als Familie kaputtgemacht“, sagt Necmiye Gülbol. Die beiden Söhne, 17 und 19 Jahre alt, hätten die Ereignisse aus der Bahn geworfen. Beide hätten ihr Fachabitur abgebrochen. Nein, sagt sie, darüber werde sie niemals hinwegkommen. Die Sorge um ihre Kinder ist groß. Wie soll es weitergehen? „Und wofür das alles?“ Necmiye Gülbol hebt ratlos die Hände. „Für 200 Euro mehr Miete, die er jetzt bekommt? Jemand, der eigentlich schon alles hat, was er braucht?“

Ali Gülbols reibt seine Hände. „Ich dachte, es geht immer weiter bergauf“, sagt er. Und dass er geglaubt habe, in einem Rechtsstaat zu leben. Wenn man sich wehre, vor Gericht ziehe, dann würde man auch recht bekommen. „Das war eigentlich der größte Schock“, sagt er, „dass es einen Vermieter gibt, der versucht, mit allen Tricks die Mieter rauszuschmeißen.“ Und dass ein Gericht dem dann recht gebe.

Ali Gülbol hat die 80er Jahre in Kreuzberg miterlebt, die Straßenschlachten rund um den 1. Mai, „das war richtig Krieg“. Er hofft, dass es nicht wieder so weit kommen müsse, bis sich etwas ändere. Dass es Tote geben müsse und Verletzte. Jeder müsse anfangen zu kämpfen, noch bevor er selbst betroffen sei. „Das sind Menschen, die diese Entwicklung vorantreiben, und was Menschen machen, kann man auch ändern.“

Nächste Woche fährt Ali Gülbol nach Köln. Um Kalle zu unterstützen, den er über eine Kampagne kennengelernt hat. Auch Kalle soll geräumt werden. Ali Gülbol wird dagegen protestieren.