: Die Sprache in Zeiten des Krieges
DEBÜT Ein jugendlicher Außenseiter findet Worte, um vom Krieg zu erzählen: „Wie ich mir das Glück vorstelle“ von Martin Kordic
VON CATARINA VON WEDEMEYER
Viktor erzählt von dem Jungen. Der Junge, das ist er selbst. Er sitzt auf der Straße und trinkt schon die dritte Fanta heute. Es ist heiß. Statt den Pilgern Wasser anzubieten und dafür Spenden zu kassieren, drückt er sich vor den Nonnen und chillt im Dorf. Nach und nach berichtet er von der Rückenspinne, dem Krieg und seinen Freunden. Die Rückenspinne ist ein Korsett, das der Junge wegen seiner schiefen Knochen tragen muss. Im Krieg hat er seine Familie verloren. Seine Freunde wird er in diesem Roman suchen müssen.
„Wie ich mir das Glück vorstelle“, das Debüt von Martin Kordic, erzählt vom Krieg in Exjugoslawien. Als Bezugspunkte taugen die Romane „Scherben“ von Ismet Prcic und „Wie der Soldat das Grammofon repariert“ von Saša Stanišić: Prcic ist räudiger, Stanišić ist poetischer. Dazwischen findet Kordic seinen unprätentiösen Stil. Der Autor ist 1983 in Celle geboren, hat in Hildesheim und Zagreb studiert und arbeitet als Lektor bei DuMont. Sein Vater stammt aus der Nähe der bosnischen Stadt Mostar.
In seinem Roman ist konsequent vage von der „Stadt der Brücken“ die Rede: Mostar. Auch sonst nutzt Kordic Verfremdungseffekte. Viktors Bezeichnungen „Mudschis und Kreuzer“ lassen sich auf die muslimisch geprägten Bosniaken und die Kroaten christlichen Glaubens zurückführen, die „Bergmenschen“ könnten die Serben sein. Aber von allen gibt es solche und solche, erfährt der Leser, nicht immer kann man von der Nationalität auf die Religion schließen und andersherum.
Das Besondere an diesem Buch ist seine Sprache. Wenn der Junge versucht, seine Umgebung zu erklären, dann ist man genauso auf der Suche nach Orientierung wie er selbst. Viktor duzt seinen Leser und hat ihn überhaupt sofort auf seiner Seite. Die Artikel vor den Namen schaffen Distanz zu den Personen. Gleichzeitig gewinnt die Geschichte an Allgemeingültigkeit, wenn „der Junge“ von „der Mutter“ oder „der Oma“ spricht. Viktors Alltag – Schießereien, Vergewaltigungen und Tod – kann nur mit einem bestimmten Abstand erzählt werden. Kordic hat dafür das richtige Verhältnis von Nähe und Distanz gefunden: Die Sprache seines Protagonisten ist schlicht, könnte aber kaum persönlicher sein. Zum Beispiel, wenn Viktor nicht sehen kann, wo der Vogel die Beine „hingetan“ hat. Das ist am letzten Tag. Viktor ist gerade ins Wasser gegangen. Schwimmen kann er allerdings nicht. Aber das Wichtigste sind in diesem Moment die Vogelbeine.
Es ist seltsam mit diesem Roman: Eigentlich gibt es keine Worte für den Krieg. Der Junge findet sie trotzdem. Kordic sei Dank. Viktor erzählt in seiner eigenen Ordnung. Die chronologische Reihenfolge offenbart sich erst am Ende des Buches. Alles beginnt mit der Geburt des Jungen, bei der es so kalt ist, dass die Familie eine der Kühe in die Küche holt. Dann ist Krieg, der Junge verliert seine Familie und lebt zunächst in der Gemeinschaft der Söhne Marias. „Maria, o Maria“, heißt es jedes Mal, wenn etwas Schlimmes passiert. Also oft. Nachdem Viktor von den Nonnen geflohen ist, tut er sich mit dem einbeinigen Dschib zusammen. Sie sammeln Patronenhülsen und versuchen zwischen den Minen zu überleben.
Das Buch ist durchgehend im Präsens geschrieben, sodass sich eine kindliche Zeitwahrnehmung einstellt. Die tote Schlange in der Spiritus-Milch-Mische ist genauso intensive Gegenwart wie die Geisterschminke, die Viktor im Schnee unsichtbar macht. Doch mithilfe von Listen schafft der Junge Ordnung in der Gleichzeitigkeit.
Pro geschriebener Seite seiner Geschichte malt Viktor einen Elefanten an die Wand seiner Unterkunft. Das ist ein schönes Bild, zumal die Elefanten später das Glück bedeuten, das der Titel ankündigt. Streng genommen kommt es nicht ganz hin, schließlich lesen wir Viktors Worte auch dann noch, wenn er schon im Wasser ist, also an einem Ort, wo er nicht mehr schreiben kann. Doch gerade dieser Widerspruch rettet die Geschichte vor der Eindeutigkeit. Die Welt bleibt rätselhaft, und genau das bedeutet: Es gibt Hoffnung. Sogar für Viktor.
■ Martin Kordic: „Wie ich mir das Glück
vorstelle“. Hanser, München 2014, 176 Seiten, 16,90 Euro