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Archiv-Artikel

Wimmelbilder für Erwachsene

ERLEUCHTET In Tsai Ming-liangs „Journey to the West“ geht ein Mönch ganz langsam durch die Welt (Panorama)

VON CRISTINA NORD

An einem Berlinale-Abend besuche ich ein italienisches Restaurant an der Torstraße, und wer sitzt ein paar Tische weiter? Der französische Schauspieler Denis Lavant. Der, der in Claire Denis’ „Beau Travail“ minutenlang zu einer Eurodance-Nummer über die Tanzfläche wirbelt; der, der sich in Leo Carax’ „Holy Motors“ mal in eine bucklige Bettlerin verwandelt, mal in den Oger vom Friedhof Père Lachaise. Und nun sitzt er da, das Haar schütter, das Gesicht etwas zerknautscht, und isst wahrscheinlich Rindscarpaccio. So genau ist das nicht zu erkennen, und aufdringlich hingucken möchte ich nicht.

Am Abend danach muss ich hingucken. Denn Lavants Kopf füllt die riesige Leinwand des Imax-Kinos. Er befindet sich in einer ruhenden Position, auf seinen Arm gebettet, sodass alle Achsen seines Gesichts – die Augenpartie, die Nase – schräg zu den Bildrändern stehen. Teile des Bildes befinden sich im Dunkel. Wo Licht hinfällt, sieht man Poren, Bartstoppeln und nach einer Weile einen Schimmer von Feuchtigkeit im rechten Auge.

Die dreiminütige Einstellung ist der Auftakt eines der schönsten Filme des Festivals: „Xi You“ („Journey to the West“) von Tsai Ming-liang. Er entstand im Sommer, als der taiwanesische Regisseur in Marseille zu Gast war, um eine Masterclass zu geben. „Xi You“ ist also ein Nebenprodukt in seinem Werk – aber was für eines! Neben Denis Lavant ist Lee Kang-sheng in der Rolle eines buddhistischen Mönchs zu sehen, er tut etwas, was einer alten Mediationstechnik entspricht: Er geht achtsam. Jeden Schritt führt er mit großer Konzentration aus. Während die Passanten binnen Sekunden das Bild durchqueren, benötigt er Minuten. Einmal etwa geht er eine Treppe hinab, es sind vielleicht 25 Stufen, er braucht dafür eine ganze Weile. Und in dieser Zeit kann man bestaunen, wie das Sonnenlicht, das von oben in den Durchgang fällt, die Ränder seines roten Gewands durchstrahlt. Eine solche Einstellung befreit die Zuschauerwahrnehmung von dem Zwang, nach Informationen zu suchen: eine tolle Erfahrung, gerade im Kontext eines auf Bedeutungsproduktion so versessenen Filmfestivals.

Andere Einstellungen sind Wimmelbilder, die eine kindliche Freude evozieren. So wie man mit Siebenjährigen die kleine graue Maus auf den Bilderbuchseiten sucht, so hält man hier Ausschau nach dem Mönch im roten Gewand. Einmal ist ein Bild kaum zu entziffern: Wie kommt das Meerwasser in den Himmel? Warum ist es von zwei scharfen Kanten begrenzt? Und warum hat der Mönch manchmal vier Arme? Nach der Vorführung spreche ich mit Freunden lange über diese Einstellung, wir können sie uns partout nicht erklären. Erst nach ein paar Tagen dämmert es mir: Vermutlich schaut Antoine Heberlés Kamera auf ein Gebäude mit einer spiegelnden Fassade, und dort sieht man den Kai und das Wasser. Ob die Verzögerung in der Wahrnehmung wohl ein Pendant zum achtsamen Gehen ist?

■ 15. 2., Zoo Palast 2, 19.30 Uhr