: „Die Erinnerung liebt das Versteckspiel“
VON GERRIT BARTELS
Es muss Günter Grass mit seiner Mitgliedschaft in der Waffen-SS lange Zeit gegangen sein wie mit dem Granatsplitter, der ihn am 20. April 1945 in einem Feuergefecht mit russischen Soldaten an der Schulter traf. So wie der Granatsplitter sich einkapselte, Teil seines Körpers wurde und nur selten bei bestimmten Bewegungen Beschwerden verursachte, begleitete Grass die Erinnerung an die Waffen-SS sein Leben lang, war sie irgendwie zwar da, aber stets gut eingekapselt.
Nun jedoch ist diese Kapsel aufgesprungen. Günter Grass hat sein Schweigen gebrochen, in seinem Erinnerungsbuch „Beim Häuten der Zwiebel“, das in drei Wochen beim Steidl Verlag erscheint, und in einem Interview mit der FAZ am Samstag, in dem er bekennt: „Das hat mich bedrückt. Mein Schweigen über all die Jahre zählt zu den Gründen, warum ich dieses Buch geschrieben habe. Das mußte raus, endlich.“
Das Problem ist nun weniger, dass man Grass irgendwelcher damals begangener Verbrechen anklagen könnte oder müsste; und dass man ihm, dem damals 16-Jährigen, die freiwillig eingegangene Mitgliedschaft in der Waffen-SS aus einem Abstand von über sechzig Jahren und einer völlig anderen gesellschaftlichen und politischen Situation heraus vorwerfen wollte. Das Problem ist vielmehr, und darin ist das momentane mittelschwere öffentliche Beben als Reaktion auf diese Enthüllung begründet, das Problem ist der Zeitpunkt, an dem Grass mit seinem Geständnis aufwartet. Warum hat er so lange damit gewartet? Und wie konnte er überhaupt so lange so überaus erfolgreich verschweigen, dass er sich 1943 als Luftwaffenhelfer erst freiwillig (und erfolglos) bei der Marine meldete und dann nach seiner Zeit beim Arbeitsdienst von der Waffen-SS seinen Einberufungsbefehl nach Dresden bekam?
Ja, offenbar hielt er es für so notwendig, diese kurze Zugehörigkeit zur Waffen-SS für sich zu behalten, dass er etwa auch seinem jüngsten Biografen Michael Jürgs, mit dem er „intensive Gespräche“ (so Jürgs) geführt hatte, 2001 im Unklaren ließ und ihm erzählte, 1944 eben „zur deutschen Wehrmacht“ einberufen worden zu sein. Ausgerechnet er, der nicht irgendein kleiner Angestellter, Beamter oder sonst ein Mitläufer gewesen ist, der sich zeit Lebens irgendwie durchzuwurschteln versucht hat. Sondern der als Günter Grass der einzige lebende literarische Weltstar Deutschlands ist, Literaturnobelpreisträger darüber hinaus und vor allem das moralische und intellektuelle Gewissen der Nation, ein gezielt die Öffentlichkeit suchender Intellektueller.
Jener Grass eben, der sich seit den Sechzigerjahren politisch engagiert; der es in Kauf nahm, dabei zwar als guter Bürger, aber immer weniger als guter Schriftsteller wahrgenommen zu werden, sei es nun seinerzeit im Wahlkampf für seinen Freund Willy Brandt, sei es durch seine Ablehnung der seiner Ansicht nach viel zu schnell vollzogenen Wiedervereinigung, seien es seine unzähligen Stellungnahmen bezüglich den Schwierigkeiten mit der deutschen Vergangenheitsbewältigung und dem Fehlen derselben.
Mit seiner eigenen Vergangenheitsbewältigung, die ja auch wieder eine repräsentative ist, hat nun selbst Grass anscheinend große Probleme gehabt, jenseits aller von ihm immer wieder zugestandenen Verirrungen als junger Soldat, seinen Glauben an den Nationalsozialismus damals, seinem ersten Unglauben, als ihm Bilder aus den Konzentrationslagern gezeigt wurden. „Und doch habe ich mich über Jahrzehnte hinweg geweigert, mir das Wort und den Doppelbuchstaben einzugestehen. Was ich mit dem dummen Stolz meiner jungen Jahre hingenommen hatte, wollte ich mir nach dem Krieg aus nachwachsender Scham verschweigen. Doch die Last blieb, und niemand konnte sie erleichtern“, schreibt er nun in „Beim Häuten der Zwiebel“.
Mechanismus der Verdrängung
Die Scham ist das eine, das unterscheidet Grass nicht von vielen Deutschen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, so sehr er seinen höchstpersönlichen „Lernprozess durchgemacht“ haben mag. Doch scheint diese Scham auch bei ihm mit einem ganz gut funktionierenden Mechanismus der Verdrängung einhergegangen zu sein, einer kraftvollen Verdrängung solcherart, dass er glaubte, „mit dem, was ich schreibend tat, genug getan zu haben“, wie er der FAZ gesteht. Und solcherart, dass er zwar 1985 meinte, auch kritisch Stellung beziehen zu müssen zur Debatte um den Besuch von Kohl und Reagan auf dem Bitburger Soldatenfriedhof, wo eben auch Waffen-SS-Angehörige lagen, ohne sich jedoch seiner einstigen Zugehörigkeit zur Waffen-SS zu bekennen. Oder dass er 2003 die Literaturwissenschaftler Walter Jens, Walter Höllerer und Peter Wapnewski wegen ihrer in jungen Jahren erworbenen NSDAP-Mitgliedschaften explizit in Schutz nahm mit den Worten: „Wenn man über sie urteilt, dann muss man tolerieren und anerkennen, dass alle, die diesen Jahrgängen angehört haben, sofern sie’s überlebt haben, die Chance hatten, etwas daraus zu machen.“
Nun, nach Grass’ Bekenntnis, fragt man sich einerseits, wie die Bitburg-Debatte verlaufen wäre, hätte Grass sich schon damals offenbart, weiß man andererseits, woher das Verständnis für Jens, Höllerer und Wapnewski herrührt, sprach doch da einer in eigener Sache.
Grass wird jetzt damit leben müssen, dass man ihm, jenseits aller psychischen Verdrängungsmechanismen, genauso Kalkül unterstellen kann. Dass es ihm also offensichtlich gerade nach dem Welterfolg mit der „Blechtrommel“ nicht mehr gelegen erschien, seine Vergangenheit auch in ihren dunkelsten Ecken auszuleuchten – nicht zuletzt in späteren Jahren, da ihm der Literaturnobelpreis wichtiger und wichtiger wurde und er beim langen Warten darauf schon daran dachte – wie er in „Beim Häuten der Zwiebel“ bekennt – dem Nobelpreiskomitee einen Brief zu schreiben mit der Bitte, ihn keinesfalls zu küren; eine vorauseilende Nichtannahme also. Ein ehemaliger Waffen-SSler wäre für diesen Preis wohl nicht in Frage gekommen. Zudem scheint es, als sei es nicht allein die Last seiner „Schande“ (Grass) und der durch das Alter forcierte Prozess der Erinnerung, die Grass zu seinem Geständnis veranlassten, sondern auch das nicht zuletzt von ihm selbst (sein Gustloff-Vertriebenen-Roman „Im Krebsgang“) verstärkt geweckte öffentliche Bewusstsein dafür, dass die Deutschen selbst nicht nur Täter, sondern auch Verführte des Nazismus und Opfer des Zweiten Weltkriegs gewesen waren. In so einem Klima gesteht es sich leichter.
Seine Autobiografie „Beim Häuten der Zwiebel“ ist immer wieder fragende und manchmal enervierend viel fragende Selbstanklage. Zuweilen wirkt sie jedoch wie eine Art Selbstentschuldigung, schimmert eine Koketterie mit durch, die nicht allein dem Bewusstsein der eigenen literarischer Größe geschuldet ist: Wenn Grass hin und wieder der Versuchung erliegt, „sich in dritter Person zu verkappen“; wenn er die Schwierigkeiten mit der Erinnerung beschreibt („Die Erinnerung liebt das Versteckspiel der Kinder“, „Erinnerungsschnipsel, mal so mal so sortiert, fügen sich lückenhaft“); wenn er sich zum einen – wie bei der Waffen-SS – gezielt offenbart, zum anderen aber vermeintliche Begegnungen mit Kardinal Ratzinger im Gefangenenlager 1945 oder mit Louis Armstrong in den frühen Fünfzigerjahren in Düsseldorf bewusst als nebulöse, möglicherweise fiktive Erinnerungen platziert: „… wenn es also in platter Wirklichkeit nicht zu dieser hörenswerten Begegnung gekommen sein sollte, ist sie mir dennoch bildlich geworden.“
Die platte Wirklichkeit von heute sieht so aus, dass man jetzt noch einmal eine deutsche Schuld-Scham-und-Schweige-Debatte führt, diese jedoch kaum neue Erkenntnisse bringen wird – außer dass eben selbst ein Günter Grass nicht vor Heimlichtuerei gefeit war. Allerdings wird Grass’ Werk und Wirken vor dem Hintergrund seines Geständnisses noch einmal in einem anderen Licht besehen werden müssen, und da wird man, Grass selbst gibt in seinem Erinnerungsbuch viele Hinweise, vielleicht gerade die Danziger Trilogie neu bewerten müssen. Dass Grass aber „bloßes Schreibwerkzeug“ war, als er die „Blechtrommel“, „Katz und Maus“ und „Hundejahre“ schrieb, dass er seinem erfundenen Personal „hörig“ war, wie es jetzt in „Beim Häuten der Zwiebel“ heißt, ja, dass nur Finanzämter nicht anerkennen wollen, „daß des Autors Existenz bloße Behauptung, also Fiktion und nicht steuerpflichtig ist“, das darf getrost bezweifelt werden.