Ein Hauch von Hoffnung nach einer langen Nacht

DIPLOMATIE Regierung und Opposition unterzeichnen in Kiew das von drei EU-Außenministern vorgeschlagene Kompromisspapier

■ Montag: Nachdem die Oppositionellen das monatelang besetzte Rathaus geräumt haben, tritt ein Amnestiegesetz für alle bisher Festgenommenen in Kraft.

■ Dienstag: Bei Straßenschlachten gibt es mindestens 18 Tote und über 1.000 Verletzte.

■ Mittwoch: Nach weiteren Auseinandersetzungen verkünden Präsident Wiktor Janukowitsch und die Anführer der parlamentarischen Opposition am späten Abend einen Waffenstillstand.

■ Donnerstag: Schon am Morgen gibt es neue Kämpfe, Scharfschützen schießen in die Menge auf dem Maidan. Über 70 Menschen sterben. In Hörweite treffen die Außenminister aus Deutschland, Frankreich und Polen Präsident Janukowitsch in dessen Palast. Sie verhandeln abwechselnd mit ihm und den Oppositionsführern bis 7 Uhr früh am nächsten Tag.

■ Freitag: Morgens erneut Schüsse auf dem Maidan. Am Nachmittag unterzeichnen Janukowitsch und die Oppositionsvertreter den ausgehandelten Kompromiss.

VON BARBARA OERTEL

BERLIN taz | „Die Unterzeichnung steht unmittelbar bevor. Das ist ein guter Kompromiss für die Ukraine, der dem Frieden eine Chance gibt“, twittert Polens Außenminister Radoslaw Sikorski am Freitagnachmittag. Um kurz vor 16 Uhr ist es dann so weit: Der ukrainische Staatspräsident Wiktor Janukowitsch und Vertreter der Opposition unterzeichnen in Kiew ein vorläufiges Abkommen zur Beilegung der politischen Krise.

Die Übereinkunft sieht unter anderem bis spätestens Dezember vorgezogene Präsidentenwahlen mit einem geänderten Wahlgesetz und einer paritätisch besetzten Wahlkommission vor. Bis zur Neuwahl soll eine Übergangsregierung die Macht übernehmen. Weiterhin wurde die Rückkehr zur Verfassung aus dem Jahre 2004 vereinbart, die dem Staatschef weniger Machtbefugnisse zubilligte. Zudem soll, unter Aufsicht der staatlichen Behörden, der Opposition sowie des Europarats in Sachen der während der Proteste Getöteten ermittelt werden. Schon am Freitagabend stimmt das Parlament für die Verfassungsänderungen. Und wo es schon mal in Schwung ist, entlässt es gleich noch den Innenminister, den die Opposition für die Polizeieinsätze verantwortlich macht, und ändert ein Gesetz, sodass die seit zweieinhalb Jahren inhaftierte einstige Oppositionsführerin Julia Timoschenko freigelassen werden kann.

Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) bezeichnet den erzielten Kompromiss als die vielleicht letzte Chance, einen Ausweg aus der Spirale der Gewalt zu finden. Nicht alle Probleme seien gelöst. Trotzdem gebe es Grund, „zuversichtlich nach vorne zu schauen“.

Noch am Donnerstag deutete nichts auf einen Kompromiss hin, im Gegenteil: Bei den seit Beginn der Proteste im November schwersten Straßenkämpfen rund um den Maidan wurden mindestens 70 Menschen getötet. Parallel versuchten Steinmeier sowie seine Amtskollegen aus Polen und Frankreich, Radoslaw Sikorski und Laurent Fabius, in Kiew zwischen den beiden Seiten zu vermitteln.

Die ursprünglich geplanten kurzen Gespräche mit Vertretern der Opposition sowie mit Staatschef Janukowitsch zogen sich bis in die frühen Morgenstunden hin. Ab zwei Uhr nachts war auch der russische Menschenrechtsbeauftragte Wladimir Lukin als Sondervermittler mit von der Partie. Am Freitagmorgen verkündete der Präsidentenpalast dann eine Einigung mit der Opposition.

Fast zeitgleich kam es zu neuen Auseinandersetzungen. Laut Polizei schossen Regierungsgegner in der Nähe des Maidan auf Polizisten. Die Polizei erwiderte das Feuer. Für Verwirrung sorgten bewaffnete Polizeieinheiten, die während einer Krisensitzung des Parlaments in das Gebäude der Rada eindrangen, sich kurz darauf aber wieder zurückzogen. Damit das Militär nicht gegen die Demonstranten vorging, trat Vizearmeechef Juri Dumanski zurück. So, sagte er, wolle er eine weitere Eskalation verhindern.

Am Vormittag nahm die EU-Troika die Vertreter von Regierung und Opposition erneut in die Mangel. Am Nachmittag leisteten der deutsche und polnische Außenminister direkt auf dem Maidan Überzeugungsarbeit. Mit Erfolg. Auch Vertreter der Demonstranten gaben grünes Licht.

Das beantwortet jedoch noch nicht die Frage, ob sich alle Regierungsgegner an den Kompromiss halten oder einige von ihnen wieder zu gewaltsamen Mitteln greifen werden. Wie die Einigung in den Regionen aufgenommen werden wird, ist schwer abzuschätzen. Im westukrainischen Lemberg beispielsweise haben sich Sicherheitskräfte den Demonstranten angeschlossen. Auch Vertreter der Gebietsverwaltung, des Geheimdienstes, des Innenministeriums und der Staatsanwaltschaft haben die Seite gewechselt.

„Das, was wir in der Ukraine gesehen haben, war kein Bürgerkrieg, sondern ein Krieg des Regimes gegen das Volk“, sagt die grüne Bundestagsabgeordnete Marieluise Beck, die gerade von einem Aufenthalt in Kiew zurückgekehrt ist. Zu dem Abkommen sagt sie: „Damit ist die Krise noch nicht beigelegt. Die EU muss jetzt Verantwortung übernehmen. Die Ukraine ist faktisch insolvent. Deshalb muss Brüssel dem Land ökonomisch unter die Arme greifen, aber das muss an Bedingungen geknüpft sein.“