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Archiv-Artikel

Das Heil in der Kunst

Ein seltsames Buch, das Offenbarung, Selbstbefragung und Schuld-und-Scham-Debatte genauso sein soll wie es seinen Stoff poetisch arrangiert: Günter Grass erzählt in „Beim Häuten der Zwiebel“ von seinem Leben zwischen den Jahren 1939 und 1959

Diese Erinnerungen, will Günter Grass uns sagen, sind mir alles andere als „ungehemmt flüssig“ von der Hand gegangen

VON GERRIT BARTELS

Seinen ersten Roman begann Günter Grass als Gymnasiast, er sollte „Die Kaschuben“ heißen, spielte im 13. Jahrhundert und handelte, wie Grass sich erinnert, „von Femegerichten und Rechtelosigkeit, die nach dem Untergang des Stauferreiches einen Erzählstoff hergaben, in dem es sattsam gewalttätig zuging“. Den Schreibimpuls erhielt Grass seinerzeit von einer Schülerzeitung namens „Hilf mit!“, die einen Schreibwettbewerb veranstaltete. Allerdings kam es gar nicht erst zur Abgabe dieses von Grass in seinem Erinnerungsbuch „Beim Häuten der Zwiebel“ wahlweise als „Roman“ oder „Erstling“ und als „ungehemmt flüssigen“ bezeichneten jugendlichen Schreibversuchs – zu unökonomisch das Ganze, zu abstrus wohl auch, mit zu viel Mord und toten Helden.

Grass spekuliert nun, dass ihm diese Nichtteilnahme an einem „NS-Wettbewerb für Großdeutschlands schreibende Jugend“ womöglich zum Vorteil gereicht hat, denn im Fall eines Erfolgs „wäre der verfrühte Beginn meiner Schriftstellerkarriere als angebräunt zu bewerten gewesen: mit Quellenangabe dem allzeit hungrigen Feuilleton ein gefundenes Fressen. Man hätte mich als Jungnazi einstufen, so vorbelastet als Mitläufer erklären, mich unwiderruflich abstempeln können. An Richtern hätte es nicht gefehlt“.

Man kann sich nach solchen Worten leicht denken, wie bewusst Günter Grass sich nach dem Krieg offenbart und wie wenig unterbewusst er gezielt verschwiegen hat – vor seinem Welterfolg mit der „Blechtrommel“, aber auch danach, da das Eingeständnis der NS-Mitläuferschaft sowieso leichter fiel. Insofern ist es gleichfalls nur schwer vorstellbar, dass Grass, wie er im überschäumenden Branden der letztwöchigen Diskussion mehrmals anmerkte, nicht vorausgeahnt hat, was sein „Geständnis“ für eine öffentliche Erregung verursachen und dass es unzählige Richter und Feuilletonisten auf den Plan rufen würde. Genauso hätte er ahnen können, dass sich vor diesem Hintergrund das Interesse für den Rest seines Erinnerungsbuches in Grenzen hält – zumal es nicht von ungefähr allein vom Leben des Günter Grass zwischen den Jahren 1939 und 1959 handelt, also vom Beginn des Zweiten Weltkriegs bis zur Fertigstellung der „Blechtrommel“.

Das ist insgesamt ein durchdachtes Geben (das „Geständnis“) und Nehmen (sensationeller Buchverkauf), und es hat was Wohlfeiles, wenn Grass immer wieder auf das Buch verweist, ja, auf die Literatur, selbst wenn diese zuvorderst autobiografischer Natur ist. Nicht zuletzt wirkt gerade das erste Viertel seines Buches vor allem wie eine wortreiche Vorbereitung auf das bis zur (vorzeitigen) Veröffentlichung einzig diskutierte Kapitel „Wie ich das Fürchten lernte“, in dem Grass erstmals von seinem Einberufungsbefehl zur Waffen-SS spricht, „wo der Rekrut meines Namens auf einem Truppenübungsplatz der Waffen-SS zum Panzerschützen ausgebildet werden sollte“.

Immer wieder ist auf diesen ersten über hundert Seiten von „Schuld“ die Rede: die Schuld hier geschwiegen zu haben, als ein Lehrer nicht mehr zum Unterricht kam; die Schuld, dort nicht gefragt zu haben, als die kaschubische Verwandtschaft scheinbar urplötzlich aus Danzig verschwand: „Kann es sein, daß mich Angst vor einer alles auf den Kopf stellenden Antwort stumm gemacht hat?“; die Schuld, hier mitgehasst zu haben, als ein von Grass als „Wirtunsowasnicht“ bezeichneter Kamerad sich beim Arbeitsdienst standhaft weigerte, eine Waffe in die Hand zu nehmen und so die Arbeitsdienststaffel in Misskredit bei den Vorgesetzten brachte. Irgendwann war er weg, vermutlich in ein KZ gebracht, und Grass fragt sich: „Lief das wie selbstverständlich ab? Wurde ihm keine zählbare Träne nachgeweint? Ging danach alles im gewohnten Trott weiter? Was könnte mir durch den Kopf gegangen sein oder mich sonstwie irritiert haben (…)?“. Solcherart selbstbefragt und selbstangeklagt, stammelt sich Grass eher als dass er erzählt voran, von einer Selbstentblößung, gar Selbstkasteiung ist er jedoch weit entfernt: Zum einen bietet ihm die Zweiteilung in den Ich-Erzähler von heute und den Jungen, „der als Entwurf meiner selbst weiterhin zu entdecken ist“, genügend Schutz. Zum anderen beruft Grass sich gern und oft auf die Freiheit des Schriftstellers, seine naturgemäß lückenhaften und nur selten unwillentlichen Erinnerungen selbstherrlich gestalten, eben fiktionalisieren zu können.

So ist „Beim Häuten der Zwiebel“ ein irgendwie seltsamer Zwitter aus Autobiografie und unbedingtes Literatur-sein-Wollen. Es ist ein Buch, das Bekenntnis, Offenbarung und Schuld-und-Scham-Debatte genauso sein soll wie es seinen Stoff poetisch arrangieren will. Ein Buch, dass die „platte Wirklichkeit“ in möglichst üppige, großformatige Bilder übersetzt, und wenn die platteste Wirklichkeit keine Bilder hergibt, muss halt die Fantasie nachhelfen, wie Grass es bei seinem spontanen Spiel mit Louis Armstrong in einem Düsseldorfer Jazzkeller bereitwillig einräumt (zu schweigen von dem notorischen „Josef“, mutmaßlich der Papst, auf den Grass nervtötend oft zurückkommt, ohne sagen zu können, was ihre Begegnung nach dem Krieg im Lager von Bad Aibling außer manchem Gespräch und dem Spiel mit den Würfeln so nachhaltig gemacht hat).

Also wird hier nicht einfach nur runtererzählt, nein, Grass muss abwiegen und abschmecken, muss Bild an Bild, Metapher an Metapher reihen, muss seine Zwiebel schälen und häuten, bis die Tränen schießen, muss seinen Bernstein betrachten, seine Zeitschichten abtragen, seine Tischrunden zusammenstellen, sein „Märchen“ erzählen, das ihn in die Gruppe 47 geführt hat – auf dass sich die Erinnerungen zu Literatur fügen und die Literatur obsiegt. Es ist schon erstaunlich, wie Grass sein Heil in der Kunst sucht, wie er mit „Beim Häuten der Zwiebel“ zu belegen versucht, „mit dem, was ich schreibend tat, genug getan zu haben“, wie er der FAZ sagte, und er sein jahrzehntelanges hartnäckiges politisches Engagement weiträumig ausblendet.

Das Ich, das hier erzählt, ist nicht nur der Bekenner und Schriftsteller Günter Grass, sondern bestenfalls gleich eine literarische Figur, der Autor ist „bloßes Schreibwerkzeug“ seiner Figuren, und in diesem Fall eben nicht von Figuren wie Oskar Matzerath und Joachim Mahlke, sondern dem jungen und später an der „Blechtrommel“ schreibenden Günter Grass.

Denn Grass dient sein Erinnerungsbuch auch dazu, von seinen Erlebnissen, von seinem Leben, von den Leuten, denen er begegnet ist in diesen für ihn und für sein Werk entscheidenden zwanzig Jahren zurückzuschließen auf seine Bücher. Allen voran steht natürlich die „Blechtrommel“, die sich wie ein roter Faden durch „Beim Häuten der Zwiebel“ zieht und deren Hauptfigur sich unter anderem einem selbstvergessenen dreijährigen Trommler in einer Familienrunde verdankt. Aber auch das restliche Romanwerk kommt zu Ehren, von „Örtlich betäubt“, dem ersten schwachen Buch von Grass nach der Danziger Trilogie, über den „Butt“, dem letzten einigermaßen gelungenen Grass-Buch, bis zu den jüngsten und bei der Kritik größtenteils durchgefallenen Romanen „Ein weites Feld“ und „Im Krebsgang“.

Man mag das eitel und selbstbezogen nennen, was Grass hier also im Verein mit seinen Selbstanklagen und seinem Versuch, Schuld auf sich zu nehmen und abzutragen, so fabriziert. Eitel und selbstbezogen aber sind Schriftstellerautobiografien zumeist, das liegt in der Natur der Sache, wenn nicht des Schreibens überhaupt. Vielmehr nervt dieses selbstquälerisch kokette Hin und Her: Ich bin Großschriftsteller, aber ich leide auch ungemein: unter den Umständen von damals, unter dieser immens schwierigen Schriftstellerwerdung. Diese Erinnerungen, will Grass uns sagen, sind mir alles andere als „ungehemmt flüssig“ von der Hand gegangen.

Das macht die Lektüre so zäh, mitunter schwer erträglich, und das verdeckt, dass Grass, hat man sich auf seinen für ihn typisch barocken und umständlichen Sound einmal eingelassen, durchaus eindringliche, nachhallende Geschichten zu erzählen weiß: sei es aus dem Lagerleben nach Kriegsende, sei es vom Tod der Mutter und den Problemen der Schwester, sei es von seiner Düsseldorfer Zeit, wo er erst Steinmetz lernt (und dabei immer mal mit einer Ziege Gassi und auf Nahrungssuche gehen muss) und später die Kunsthochschule besucht.

Nur fehlt hier das wirklich Dringliche, das wirklich Belastende, da fügte sich in den späten Vierzigerjahren schon das eine zum anderen. Kein Wunder, dass auch die Fragen an den nicht mehr ganz so jungen Günter weniger und weniger werden. Die Fallhöhe zwischen der Aufregung der vergangenen Woche und den hier erzählten Dingen wird für den Leser eine große sein. Das letzte Viertel dieses Buches hat schon was von Abhaken und Irgendwie-auch-noch-erzählen-Müssen, und ganz im Sinn des bloßen Schreibwerkzeugseins beschließt Grass seine Erinnerungen mit drei kurzen Sätzen: „So lebte ich fortan von Seite zu Seite und zwischen Buch und Buch. Dabei blieb ich inwendig reich an Figuren. Doch davon zu erzählen fehlt es an Zwiebeln und Lust.“ Ist der erste Satz eine allein der Kunst geschuldete Unwahrheit und möchte man dem zweiten ein „Nun ja, mag sein“ in Klammern hinterherschicken, so glaubt man ihm ganz fest den dritten und letzten und kann noch anfügen: Nicht nur an der Lust dürfte es fehlen, sondern auch an der Notwendigkeit.

Günter Grass: „Beim Häuten der Zwiebel“. Steidl Verlag, Göttingen 2006, 480 Seiten, 24 €