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Archiv-Artikel

Letzte Lösung: Abriss

In Lübeck werden zum ersten Mal in der Geschichte der Stadt Kirchen abgerissen. Eine Übernahme durch muslimische Gemeinden komme nicht in Frage, da sind sich die christlichen Konfessionen einig

aus LübeckPhilipp Ratfisch

Spitz ragt der Glockenturm in den leicht bewölkten Himmel. Er gehört zur Melanchthon-Kirche im Zentrum Lübecks, eines jener modernen, schlichten Gotteshäuser, wie sie in den Sechzigern und Siebzigern gebaut wurden. Seit vierzig Jahren steht die Kirche im Dienst der lutherisch-evangelischen Gemeinde. Nun soll sie abgerissen werden – als erste evangelische Kirche in der Stadtgeschichte.

„Ich empfinde das als Stich ins Herz“, sagt Wolfgang Jarosch-Nauhaus vom Kirchenvorstand. Dennoch hat der 57-Jährige die Entscheidung mitgetragen, zunächst aus finanziellen Erwägungen. „Sie haben hier im Radius von einem Kilometer sieben Kirchen“, beschreibt der pensionierte Bahnbeamte die Lage. Die vor fünf Jahren fusionierte Luther-Melanchthon-Gemeinde selbst besitzt zwei Gotteshäuser – eines zu viel. Denn der Unterhalt einer Kirche ist teuer, und die Gemeinde blickt wegen des Mitgliederschwundes der vergangenen Jahre in zunehmend leere Kassen. „Das ist ja geschenktes Geld“, verweist Jarosch-Nauhaus auf die Einnahmen durch die Kirchensteuer. „Sollen wir damit in Gebäude investieren – oder in Menschen?“

Die Katholiken der Hansestadt haben das gleiche Problem. Vor kurzem wurden die Gemeinden neu geordnet, aus neun wurden fünf. Für die Heilig Geist-Gemeinde bedeutete die Zusammenlegung, dass sich ihr Pfarrer nun um vier Kirchen gleichzeitig kümmern musste – ein Ding der Unmöglichkeit. Vor zwei Jahren entschied der Vorstand, die St. Ansgar-Kirche im etwas außerhalb gelegenen Stadtteil Schlutup aufzugeben. Sie wurde daraufhin entweiht, seitdem steht das Gebäude leer. Im Juli dieses Jahres hat das zuständige Erzbistum Hamburg den Abriss verfügt.

„Wir Katholiken hier in Schlutup haben jetzt keine Kirche mehr“, beschwert sich Peter Gieseler, als er den Blick über das Gelände des ehemaligen Gotteshauses streifen lässt. Vor dem Eingang des Gebäudes liegt ein großes Eisenkreuz auf dem Boden. Sein eigentlicher Platz, der kleine Glockenturm auf dem Dach, wirkt kahl. Zwischen den Steinplatten des kleinen Hofes wächst Unkraut hervor.

Der 66-jährige Gieseler war hier seit 1953 Ministrant, später Mitglied des Kirchenvorstands und des Gemeinderats. „Ich habe meine Hochzeit hier gefeiert“, sagt er. „Das ist dann schon sehr traurig.“ Für den Abriss hat er kein Verständnis. „Das ist eine komplett neue Pfarrei, man hätte damit noch viel Geld machen können“, meint er. Wohl aber nicht um jeden Preis. Denn irgendein Laden solle nicht in die Kirche einziehen: „Dann würden wir doch lieber sagen: Dann reißen wir das ab.“

So sieht es auch das Erzbistum Hamburg. „Wir haben mit Interessenten geredet, aber sind da nicht übereingekommen“, sagt Bernd Duhn von der dortigen Abteilung Kirchengemeinden. Ein potenzieller Käufer wollte in dem Gebäude ein Lager errichten. Das Bistum lehnte eine solche Nutzung an dem einst geweihten Ort ab. „Da kann nicht ein kommerzielles Interesse im Vordergrund stehen“, so Duhn.

Das gilt auch für die Melanchthon-Kirche. „Stellen Sie sich vor, hier kommt ein Reifenlager hinein“, beschreibt Wolfgang Jarosch-Nauhaus sein Horrorszenario. „Das ist etwas, das ich weder meinen Gemeindemitgliedern noch mir selber zumuten würde.“ Die Kirche sei das Höchste im Leben, eine solche Folgenutzung unvorstellbar. „Es war im Grunde genommen kein ernst zu nehmendes Angebot vorhanden“, bestätigt Katja Launer vom Kirchenkreis Lübeck. „Ein Abriss war die letzte Option, die übrig blieb.“

Denn das Gebäude leerstehen zu lassen, kommt auch für Kirchenvorstand Jarosch-Nauhaus nicht in Frage. „Wenn wir da nicht mehr hingehen könnten – das wäre sehr schmerzhaft“, meint er. „Dann möchte ich lieber endgültig trauern“ – und abreißen. Bernd Duhn vom Erzbistum Hamburg teilt diese Ansicht. Eine leerstehende Kirche sei „so ein negatives Zeichen“.

Eine andere Gemeinde, die bereit gewesen wäre, die Gebäude zu übernehmen, hat sich weder für St. Ansgar noch die Melanchthon-Kirche gefunden. Allerdings: Die Muslime in Lübeck hat man nicht gefragt. „Es kommt für uns nicht in Frage, ein solches Angebot an die muslimische Gemeinde zu machen“, sagt Bernd Duhn. In einer Broschüre der Deutschen Bischofskonferenz zur „Umnutzung von Kirchen“ aus dem Jahre 2003 heißt es: „Die kultische Nutzung durch nichtchristliche Religionsgemeinschaften (zum Beispiel Islam, Buddhismus, Sekten) ist – wegen der Symbolwirkung einer solchen Maßnahme – nicht möglich.“

Begründet wird dies mit der „Rücksicht auf die religiösen Gefühle der katholischen Gläubigen“. Die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands hat im selben Jahr eine ähnlich lautende Broschüre herausgegeben. Auch sie lehnt die Weitergabe von Kirchengebäuden an die muslimische Gemeinschaft ab. „Das würde solche starken ethischen Konflikte hervorrufen, dass der Kirchenvorstand das ausgeschlossen hat“, erläutert Katja Launer die Abbruch-Entscheidung der Luther-Melanchthon-Gemeinde.

Laut Wolfgang Jarosch-Nauhaus vom Kirchenvorstand wird die Gemeinde im April des kommenden Jahres endgültig umgezogen sein. Bis es zum Abriss kommt, kann es allerdings noch dauern. Denn das endgültige Urteil fällt das Nordelbische Kirchenamt in Kiel. „Wir rechnen intern damit, dass sich das bis zu zwei Jahren hinzieht“, so Launer.

Die Melanchthon-Kirche wird also doch noch eine Weile leerstehen müssen. Auch wenn es manchen schmerzt.