: Bartstoppeln, Schuhnägel und Zigaretten
AUSSTELLUNG Das comichafte Spätwerk des US-Malers Philip Guston ist in der Sammlung Falckenberg zu sehen: Kratzbürstige Bilder von einem Künstler, der sich für Giotto, Kafka und Nixon gleichermaßen interessierte – und jegliche Erklärungen verweigerte
Philip Guston 1978
VON HAJO SCHIFF
Die Hand kommt aus blauen Wolken und zeichnet auf die braune Erde. Es ist eine stark geäderte linke Hand und heraus kommt nur eine gerade, schwarze Linie. Das scheint nicht gerade ein unmäßig komplexer oder gelungener göttlicher Entwurf. Aber immerhin: Der zum Zeitpunkt dieses Bildes 65-jährige Maler Philip Guston mag sich und uns daran erinnern, dass alle Kunst mit einem Strich beginnt. Das andere Bild einer zeichnenden Hand in dieser Ausstellung in der Harburger Sammlung Falckenberg ist eine ebenfalls linke, deutlich kleinere Hand, die eigenartige Ähnlichkeit mit einer Pfote hat. An sie knüpft der amerikanische, hochgehandelte und in den berühmtesten Museen vertretene Maler die Frage, was wohl die Menschen vor mehr als 25.000 Jahren bewegt hat, überhaupt mit Kunst zu beginnen.
Nun liegt es auf den ersten Blick keineswegs nahe, an diese comichaft vereinfachten Bildzeichnungen das tiefschürfende System kunsthistorischer Interpretation anzulegen. Doch Blockheads mit Zyklopenaugen und qualmenden Zigaretten, Mauern und haarige Beine, Ku-Klux-Klan-Mützen, einsame Uhren und viele Schuhsohlen schreien schon nach einer Erklärung, so einen diese grob gemalten Bilder nicht gleich gänzlich abschrecken. Wobei nicht einmal sicher ist, ob in diesen Begriffen das Dargestellte überhaupt erfasst ist: Oft ist nicht wirklich klar, ob das gemalte Ding da eine Schrifttafel, ein Toast oder ein Hochhaus ist. Jedenfalls ist hier eine surrealistische Metamorphose erlaubt: Man „malt einen Schuh, der wird zum Mond und dann zu einer Scheibe Brot“, sagt Philip Guston.
Dazukommt ein ungewöhnlicher Umgang mit der Farbe: Das immer wieder eingesetzte Cadmiumrot wird mit viel Weiß gelegentlich zu einem aufdringlich fiesen Rosa. Und die den Betrachtern zugewandten, genagelten Schuhsohlen haben gerade in Rosa eine ziemlich unangenehme Ausstrahlung. Es ist ein ebenso schräger Farb-Form-Kontrast wie die rosa Totenschädel des belgischen Protosurrealisten James Ensor. Immer wieder massenhaft Schuhe: Beziehen die sich nun auf militärische Gewalt, auf den Kontakt zur Erde, auf eine asiatische Form der Beleidigung oder die Schuhstapel von Auschwitz?
Wo die Bilder so viel reden, ohne dass man weiß, worüber eigentlich, kann es hilfreich sein, in der ungewöhnlichen Biografie dieses Künstlers zu stöbern. Philip ist das jüngste von sieben Kindern, als er 1913 in Montreal geboren wird, seine Eltern sind die Goldsteins, Emigranten aus Odessa. Die Familie geht 1919 nach Kalifornien, bleibt aber arm. Sie halten sich teilweise mit Lumpensammeln über Wasser. Mit zehn Jahren findet der junge Philip seinen Vater erhängt auf dem Dachboden, ein lebenslanges Trauma.
Schon das Kind hat ein besonderes Zeichentalent, als 12-Jähriger kopiert er Cartoons und belegt einen Fernkurs an der Cleveland School of Cartooning. Mit 15 freundet er sich an der High-School mit Jackson Pollock an und beginnt, Geld als Komparse in Hollywood zu verdienen. Mit 17 erhält er ein Stipendium am Otis Art Institute in Los Angeles, lässt sich von Giorgio de Chirico, Pablo Picasso und den mexikanische Muralisten anregen und malt politische Bilder. Mit 18 hat er seine erste Einzelausstellung.
Ab 1935 lebt er in New York, ändert seinen Namen von Goldstein in Guston und malt vor allem politische Wandbilder. Nach einer Reise ins Nachkriegseuropa wird er in den 50er-Jahren in seinem dann „zweiten Leben“ zu einem der führenden abstrakten Expressionisten. Er gehört zum Kern der New York School um de Kooning, Rothko, Kline, Motherwell und Newman, ist mit John Cage und Morton Feldman befreundet. Er unterrichtet, nimmt an documenta II teil und erhält 1962 als Krönung eine Retrospektive im Solomon R. Guggenheim Museum.
Doch dann kommt die Krise. Er verwirft die Abstraktion und beginnt nach einer Malpause mit seinem „dritten Leben“ als neofigurativer Maler. Die New Yorker Kritik ist entsetzt über den Verrat, viele Freunde wenden sich ab. Er zieht sich ins drei Stunden entfernte Woodstock zurück und wird zu einem Geheimtipp. Erst ab 1978 ergeben sich wieder größere Ausstellungen und erst kurz nach seinem Tod 1980 wird er langsam weltweit geschätzt und sogar zum Vorbild einer neuen Malerei.
Es ist also durchaus möglich, diese so sperrigen Bilder ganz verschieden zu analysieren. Man kann nach der schwierigen Kindheit suchen oder nach dem speziell jüdischen Witz, die Semiotik des Comics anwenden oder den politischen Protest finden – Guston interessierte sich für die Texte zur Banalität des Bösen, zeichnete eine umfangreiche Serie gegen Richard Nixon und war Vietnamkriegsgegner. Auch gibt es immer wieder Spuren in die Literatur: Guston schätzte Valery, Kafka und Isaac Babel. In etwa 100 „Poem-Pictures“ kombinierte er Lyrik und Zeichnung – einige Exemplare sind in der Ausstellung präsent. Bei einem so furios abstrakt-surrealen Bild wie „To J.S.“ von 1977 ist es gut zu wissen, dass es sich auf das Gedicht von Jules Supervielle über die Blut trinkenden „Pferde der Zeit“ bezieht.
Gerne wird auch die Malerei der Renaissance zur Bilderklärung herangezogen: Guston war dreimal, teils monatelang, in Italien und er hat Maler wie Giotto, Massacio oder Piero della Francesca immer wieder als seine Heroen benannt. Es ist ein Vorteil der notwendigen Führungen in der Sammlung Falckenberg, dass solche Zusammenhänge angesprochen werden können. Und doch hilft all das letztlich nur wenig. Guston selbst hat sich trotz vieler Lehraufträge immer geweigert, seine Bilder zu erklären, er fand Stilfragen wenig nützlich und behauptete stets, seine drei verschiedenen Produktionsphasen seien im Grunde dasselbe.
Es ist wahrscheinlich die herausragendste Qualität dieser kratzbürstigen Bilder, einem freundlichen Einverständnis nicht zur Verfügung zu stehen. Diese Bartstoppel-Schuhsohlen-Welt vermag nachhaltig zu irritieren, was der Malerei heute sonst eher selten gelingt. Wie Philip Guston zwei Jahre vor seinem Tod in einer Vorlesung an der Universität von Minnesota sagte: „Die Bilder verblüffen mich auch. Und dafür male ich.“
„Philip Guston – das große Spätwerk“: bis 25. Mai, Hamburg, Deichtorhallen – Sammlung Falckenberg, Wilstorfer Str. 71. Besuch nur mit Führung, Anmeldung unter ☎ 32 50 67 62 oder www.deichtorhallen.de/fuehrungen Katalog im Verlag Strzelecki Books, 156 Seiten, 26 Euro.