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Archiv-Artikel

WOLFGANG GASTLEUCHTEN DER MENSCHHEIT Zu Besuch bei einem Herrn namens Stiller

Es ist eine Buchpremiere an einem historischen Ort. Wir befinden uns in Berlin-Lichtenberg, in der früheren Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit. Es ist Dienstagabend. Anwesend ist Werner Stiller, der prominenteste Abgang, den der Geheimdienst der DDR zeit seines Wirkens zu verzeichnen hatte. Stiller lief Anfang 1979 unter abenteuerlichen Umständen zum Bundesnachrichtendienst über. An die 70 Agenten der DDR wurden durch seinen Verrat enttarnt. Stasichef Erich Mielke ordnete die Jagd auf den Überläufer an. Er sollte in die DDR zurückgebracht (wo ihn das Todesurteil erwartet hätte) oder vor Ort „erledigt“ werden.

Der frühere Oberleutnant heißt heute Peter Fischer. Vis-à-vis seinem alten Arbeitsplatz stellt er seine Memoiren vor: „Der Agent. Mein Leben in drei Geheimdiensten“ (Ch. Links Verlag 2010). Es ist sein zweites Buch – und diesmal die Wahrheit, wie Stiller/Fischer versichert. Die erste Biografie hieß „Im Zentrum der Spionage“, erschien 1986, und beim Schreiben hatte der Geheimdienst aus dem bayerischen Pullach Regie geführt.

In der ersten Version hieß es, der BND habe den Kontakt hergestellt und Stiller sei langjähriger Maulwurf in der Truppe von Markus Wolf gewesen. Jetzt heißt es: Der MfS-Offizier höchstselbst habe den Kontakt zu dem westdeutschen Gegenüber gesucht – und zunächst gar nicht gefunden. Die westdeutschen Geheimdienstler hätten nicht nur reichlich dilettiert, sie hätten um ein Haar auch den Übertritt Stillers in den Westen vergeigt, weil die vom BND gelieferten Papiere als lausige Fälschungen erkennbar waren. Stiller wusste sich aber zu helfen und haute mit einem gefälschten Dienstauftrag über eine Agentenschleuse auf dem Bahnhof Friedrichstraße ab.

Die Suche nach Stiller war so intensiv, dass die Pullacher kalte Füße bekamen und den Schützling im Herbst 1980 an die Kollegen von der CIA überstellten. Daher auch der Untertitel „Mein Leben in drei Geheimdiensten“.

Die CIA schickte Stiller zum Wirtschaftsstudium nach St. Louis, er machte Karriere, wurde unter anderem Investmentbanker bei Goldman Sachs und Lehman Brothers. Über diese „Finanzgeschichte“ will er demnächst schreiben – natürlich nichts anderes als die Wahrheit.

Wolfgang Gast ist taz-Redakteur