: Es ist nur eine Phase
AUFKLÄRUNG Fünfzig Jahre Schwule und Lesben in der Zeitschrift „Bravo“ – Erwin In het Panhuis hat die Antworten des angeblich liberalen Dr. Sommer unter die Lupe genommen
VON MARTIN REICHERT
Digitale Schmutz-und-Schund-Filter brauchte man früher nicht. Es gab auch noch kein Internet, das sexuelle und andere Bedrohungen hätte in die Jugendzimmer tragen können. Stattdessen gab es schon seit den Sechzigerjahren das Zentralorgan der westdeutschen Jugendkultur, die Zeitschrift Bravo.
Auch meine Mutter brauchte seinerzeit in den Achtzigern keine Filtersoftware. Sie filzte einfach am Erscheinungstag der Bravo meinen Schulranzen an der Haustür, um den Schmutz & Schund zu konfiszieren. Weshalb mir das unter Kleidung und Gürtel verborgene Printprodukt mitunter schmerzhaft auf jene Körperregion drückte, über deren Funktionsweisen ich mir Überblick zu verschaffen suchte. Und Dr. Sommer, der Pubertätskummerkasten, hatte ja auch wenigstens Antworten auf jene Fragen, die zu stellen man sich anderswo gar nicht erst getraut hätte. Homosexualität?!? „Es ist nur eine Phase.“ Ich warte noch heute darauf, dass diese bislang durchaus bereichernde Phase einmal zu Ende geht.
Auch solch persönliche Erinnerungen von Schwulen an ihren „Lebensbegleiter“ Bravo finden Platz in Erwin In het Panhuis’ Band „Aufklärung und Aufregung. 50 Jahre Schwule und Lesben in der BRAVO“, veröffentlich im Verlag des Archivs der Jugendkulturen.
Doch darüber hinaus schließt der Autor, unterstützt vom „Kölner Centrum Schwule Geschichte“, eine Forschungslücke innerhalb der zahlreichen Publikationen, die anlässlich des 50. Geburtstages der Zeitschrift erschienen. Wobei allein das Durchblättern des Bandes suggeriert, dass es sich bei den Homosexuellen in Bravo-Zusammenhängen nicht wirklich um Lückenfüller gehandelt haben kann: Rex Gildo, Freddie Mercury, Elton John, George Michael, Boy George, Limahl … die Pop-Kultur war in Unterdrückungszeiten (klandestin) schwuler als heute. So könnte es zumindest im Nachhinein erscheinen, wäre da nicht zum Beispiel Ricky Martin, Popikone der Neunziger, der erst im Frühjahr 2010 die Welt mit seinem Coming-out „überraschte“. Im Vordergrund der kulturhistorisch auch für nicht sexuell Andersbegabte faszinierenden Zeitreise steht jedoch die publizistische Rolle der Bravo als Instanz jener sexuellen Aufklärung, die von Schule und Elternhaus verabsäumt wurde. Und hier, so die Erkenntnis des Autors, spielte die Zeitschrift eine zwiespältige Rolle: Einerseits zeigten sich „Dr. Christoph Vollmer“ (Marie Louise Fischer) und Dr. Sommer (Dr. Martin Goldstein) aufgeschlossen gegenüber der traditionell verfemten Onanie, andererseits fühlte man sich, dem Zeitgeist entsprechend, verpflichtet, das „Normale“ und damit die zweigeschlechtliche, der Reproduktion gewidmete Sexualität zu befördern.
Die gleichgeschlechtliche Sexualität, vor 1969 noch strafbar, wurde ab den Siebzigern zwar nicht mehr eindeutig verteufelt, aber man wollte sie unter dem Eindruck der Verführbarkeitstheorie nicht auch noch „befördern“ – denn genau dieser Vorwurf brachte der Redaktion mehrfach Ärger mit der Zensur.
Im Ergebnis hingen meist völlig allein auf sich gestellte Schwule und Lesben, die bei der Bravo Rat suchten, bis in die späten Achtziger ratlos im Reich des Tragischen. Von vorübergehender Verwirrung war die Rede und von Ermutigung weniger: „Das mit schwul solltest du dir nicht einreden. Du bist doch nicht so, nur weil die anderen dich so nennen. Wahrscheinlich würde helfen, wenn du dich mal wehrst und einfach ‚Quatschkopf‘ zurückgibst.“
In het Panhuis’ Buch ist kein fundierter wissenschaftlicher Beitrag zur Sexualgeschichte Deutschlands – und will es auch nicht sein. Zudem war der Homosexualitätsforschung in Deutschland bislang stets eine Existenz im Hinterhof zugedacht – man füllte eben mit bescheidensten Mitteln Forschungslücken.
Es ist dennoch ein wichtiger Beitrag. Anhand einer Minderheit wird die Geschichte der deutschen Jugendkultur in Schnipseln erzählt, als bunter Sexstarschnitt. Die Schwulen und Lesben waren in Bezug auf ihre sexuellen Nöte zwar nicht besser dran als ihre Altersgenossen, die nichts wussten von Lusttropfen und Petting. Doch die Bravo bot ihnen, bei allen Unzulänglichkeiten, wenigstens die Benennung ihrer Sexualität überhaupt: „Kann es sein, dass ich schwul bin?“
Das Internet gab es ja noch nicht. Heute ist die Bravo längst marginalisiert, und die Jugend klärt sich online auf. Noch, denn die Erwachsenen, geeint im Kampf gegen die angeblich die Jugend verderbende Pornografie, stehen ja mit der Filtersoftware bereits an der Haustür.
■ Erwin In het Panhuis: „Aufklärung und Aufregung. 50 Jahre Schwule und Lesben in der BRAVO“. Archiv der Jugendkulturen Verlag, Berlin 2010, 194 Seiten, 28 Euro
■ Die Ausstellung zum Thema in der Kölner Christuskirche dauert noch bis zum 2. Oktober