Die Travestie der Roten Khmer

KAMBODSCHA Malcolm Caldwell war einer jener Intellektuellen, die Pol Pot bewunderten. Eine Reise nach Phnom Penh brachte ihm jedoch den Tod

■  Pol Pot war ein kambodschanischer Politiker, Diktator und bis 1997 der „Bruder Nr. 1“ der Roten Khmer – einer kommunistische Guerillabewegung, die 1975 in Kambodscha an die Macht kam. Infolge seiner Herrschaft kamen schätzungsweise 1,5 bis 2 Millionen Kambodschaner ums Leben.

■  Malcolm Caldwell war ein britischer Akademiker und profilierter marxistischer Autor („Hunger and the Bomb“, 1967). Der Kritiker des US-Imperialismus trat vehement für Pol Pot und die Idee des kambodschanischen Agrarkommunismus ein.

■  Das Rote-Khmer-Tribunal: Mehr als 20 Jahre nach dem Ende ihrer Herrschaft war kein einziges führendes Mitglied der Roten Khmer in Kambodscha zur Rechenschaft gezogen worden. Dann wurde im Jahr 2006 mit internationaler Unterstützung ein Tribunal gegründet – nach dem Vorbild des Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag.

■  Angeklagte: Als Erster stand „Duch“, der ehemalige Chef des Folterzentrums Tuol Sleng, vor Gericht. Er wurde zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt. Im nächsten Jahr soll das Gerichtsverfahren gegen drei ehemalige führende Mitglieder der Roten Khmer, unter ihnen Khieu Samphan, einst Staatspräsident und Cheftheoretiker der Agrarrevolution, eröffnet werden.

VON CHRISTIAN SEMLER

Es war die Nacht zum 22. Dezember 1978 in Phnom Penh, der menschenentleerten Hauptstadt des „demokratischen Kampuchea“. Im Regierungshotel lag Malcolm Caldwell, Professor an der Londoner Hochschule für afrikanische und asiatische Studien, Bewunderer der kambodschanischen Revolution und Gast der Roten Khmer – von Gewehrkugeln durchsiebt. Noch am Nachmittag war er von Pol Pot, dem „Bruder Nr. 1“ , empfangen worden und enthusiasmiert zu zwei Freunden, Journalisten und Begleiter seiner Reise, zurückgekehrt.

Als Attentäter wurden Mitglieder der zu Caldwells Schutz abgestellten Wachmannschaft verhaftet. Sie wurden verhört, sie „gestanden“ und wurden am 5. Januar 1979 hingerichtet. 48 Stunden später erreichte die vietnamesische Invasion, die zu Neujahr begonnen hatte, Phnom Penh. Die Roten Khmer kehrten in den Dschungel zurück, wer die Täter und ihre Hintermänner waren, wissen wir nicht.

Ausgerechnet der Mann, für den die Fronten des antiimperialistischen Kampfes so klar gewesen waren, starb nicht als Kämpfer, sondern erlitt einen obskuren Tod. Malcolm Caldwell war für die prochinesische Linke im westlichen Europa ein Mentor und auch ein Gewährsmann. Er verkörperte den Typus des engagierten Gelehrten. Zusammen mit dem weltbekannten Wissenschaftler Noam Chomsky und dem Publizisten Jan Myrdal munitionierte er die westlichen Maoisten mit Argumenten und Fakten, mit denen der Propaganda der westlichen Medien entgegengetreten werden sollte. Denn schon 1976 waren Berichte erschienen, die – meist auf der Basis von Interviews mit Flüchtlingen – von einem Völkermord der Roten Khmer an ihrem eigenen Volk sprachen.

Heute wissen wir, dass die damals publizierten Aussagen, die von linken Kritikern in Zweifel gezogen worden waren, der Wahrheit entsprachen. Die heutigen Statistiker des Todes im Kambodscha der Jahre 1975 bis Ende 1978 nehmen fast einmütig nicht weniger als 1,5 bis 2 Millionen Menschen als Opfer der Roten-Khmer-Herrschaft an. Sie starben an Hunger. Sie kamen in Lagern um, wurden zu Tode gefoltert.

Viele dieser Tatsachen waren damals unbekannt, aber was hinderte Caldwell und auch die maoistische Linke in der Bundesrepublik einschließlich des Verfassers dieser Zeilen daran, bei ihrem Urteil über die Lage in Kambodscha Vorsicht walten zu lassen? Darauf könnte man antworten, die Anhänger der Roten Khmer im Westen waren eben vernagelte Dogmatiker, die sich weigerten, nicht genehme Fakten zur Kenntnis zu nehmen. Aber warum war das so?

Die Reaktion des Westens – insbesondere die der USA – auf die Roten Khmer deutete Caldwell als „gespieltes Entsetzen“. Er sah „Krokodilstränen ausgerechnet bei denen, die zufrieden die beispielslose Schlächterei der amerikanischen Luftwaffe in Kambodscha akzeptiert hatten“. Die USA-Bombardements hatten Caldwell zufolge nach amerikanischen Einschätzungen allein für 1973 200.000 Opfer gefordert, lebenslange Krüppel und Verletzte inbegriffen. Die Infrastruktur des Landes war zerstört, viele Bauern verloren ihre Existenzgrundlage. Für Caldwell wie für die maoistische Linke insgesamt war erwiesen, dass die Amerikaner in Vietnam Massenmorde an Zivilisten begangen hatten. Der gegen die Roten Khmer gerichtete Völkermord-Vorwurf war für Caldwell ein Musterbeispiel projektiven Verhaltens seitens der US-Medien.

Der radikalen Linken standen auch die Ergebnisse des rechten Militärputschs von 1965 in Indonesien vor Augen. Nach Angaben des siegreichen Militärs waren damals 500.000 Kommunisten und deren Sympathisanten getötet worden. All dies bildete einen Erklärungshorizont, vor dem von amerikanischen und anderen westlichen Autoren herausgegebene Flüchtlingsberichte über einen Völkermord in Kambodscha mit größter Skepsis aufgenommen wurden. Richtige Einwände gegenüber der Glaubwürdigkeit der interviewten Zeugen verdichteten sich dabei zu einem Generalverdacht gegenüber allen Aussagen. Die Angaben der Roten Khmer wurden demgegenüber ungeprüft übernommen. Schließlich galten sie als Waffenbrüder der Vietnamesen, die als moralisch sensible Revolutionäre Massenterror gegen Zivilisten ablehnten.

Caldwell war für die prochinesische Linke im westlichen Europa ein Mentor und auch ein Gewährsmann

Unmittelbar nach der Einnahme von Phnom Penh im April 1975 ordneten die Roten Khmer die sofortige und vollständige Evakuierung der Stadt an. Als Begründung wurde angeführt, dass Phnom Penhs Bevölkerung durch Flüchtlinge aus den ländlichen Gegenden auf mehr als zwei Millionen Menschen angeschwollen war, die Ernährung der Einwohner nicht mehr gewährleistet werden könne und dass der Ausbruch von Seuchen drohe. Die Maßnahme entsetzte in ihrer Rigorosität selbst viele, die dem Sieg der Roten Khmer nahestanden. Sie wurde aber von Caldwell und den westlichen Maoisten als rational und unabwendbar verteidigt. Denn die einzige Alternative wäre eine vietnamesisch-sowjetische Luftbrücke gewesen. Die aber hätte – so die Maoisten – einen unabhängigen Weg Kambodschas zum Sozialismus unmöglich gemacht.

In diesem Zusammenhang schrieb Caldwell. „Phnom Penh war für die armen Bauern Symbol für das in ihrer Gesellschaft geworden, was korrupt, verdorben und prowestlich war. Sie waren entschlossen, es als faktisches Zentrum der Nation aufzuheben.“ Statt nach Art traditioneller Bauernrebellionen die Stadt dem Erdboden gleichzumachen und einen Teil der Bevölkerung umzubringen, hätte die Armee der Roten Khmer, so Caldwell, sich damit begnügt, „die Bevölkerung zu evakuieren, um sie durch harte Arbeit in Reisfeldern zu läutern und umzuerziehen“. Denn es wäre darauf angekommen, „alle Symbole der Fremdherrschaft zu zerstören und einen ‚neuen Menschen‘ innerhalb einer sozialistischen Bauerngesellschaft zu schaffen, die völlig kambodschanisch ist“.

Diese Vorstellung einer egalitären Bauerngesellschaft auf der Basis autonomer agrarischer Kollektive faszinierte die maoistische Linke, gerade weil sie so stark von der konventionellen realsozialistischen Praxis abwich. Denn hier sollte nicht mehr auf Kosten der Bauernschaft massiv industrialisiert werden, sondern nur, um deren Bedürfnisse zu befriedigen. Indem die Revolution an vorkapitalistische Verhältnisse anknüpfte, glaubte sie, mit einem Schlag das Geld abschaffen zu können, was in der marxistischen Theorie erst einer späten Entwicklungsphase des Sozialismus vorbehalten war.

Die maoistische Linke hoffte, dass die kambodschanische Erfahrung dazu beitragen könne, die von Marx benannten drei großen Unterschiede – den zwischen Stadt und Land, den zwischen körperlicher und geistiger Arbeit und den zwischen der sozialen Stellung der Geschlechter – schneller aufzuheben. Diese Hoffnung war deshalb so stark, weil sie utopischem Denken entsprang. Dieses Denken wurde enttäuscht. Ohne dass die Hoffnung auf eine menschenwürdige Gesellschaft mit der schrecklichen Travestie der Roten Khmer gleich hätte mitbeerdigt werden können.

Der Autor war in den Siebzigern Vorsitzender der maoistischen KPD. Auch er hatte eine Einladung nach Phnom Penh – war jedoch verhindert