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Archiv-Artikel

Was Angela Merkel nicht sieht

BILANZ Zwölf Monate Schwarz-Gelb. Letztes Jahr tingelte die Kanzlerin durch die Republik. Was hat sie sich angeschaut? Was nicht? Das Ungesehene zeigt: Die Regierenden leben in einer Wirklichkeit, die Regierten in einer anderen. Eine Abrechnung

AUS TRAPPENKAMP, GREVEN, NÜRNBERG UND NEURUPPIN WALTRAUD SCHWAB ILLUSTRATION DIETER JÜDT

Angela Merkel war in Trappenkamp. In Schleswig-Holstein liegt der Ort, in dem 4.500 Menschen wohnen. In die Arndtstraße hat sie sich einfliegen lassen und dort „Di.Hako“ besucht – ein Zulieferer für Straßenreinigungsgeräte. Das Dach der Fabrik ist zackig wie der Kamm eines Molches.

Merkel hat sich das Unternehmen mit 75 Angestellten angeschaut – die Hälfte von ihnen ist behindert. Sie hat Hände geschüttelt. Die vom dynamischen Geschäftsführer Peter Speckhahn-Hass, auch die von Ibrahim Bogdo, einem Arbeiter. Trappenkamp selbst, das nach dem Krieg auf einem Minenlager gegründet wurde und wo heute Menschen aus vierzig Ländern leben, stand nicht auf ihrer Agenda.

Auf Merkels Mittelstandsreise war das. Im Sommer 2009. Die Kritik, dass nur Opel, Audi, Schaeffler Subventionen bekommen, wo doch die mittleren Unternehmen 70 Prozent der Arbeitsplätze schaffen, sollte mit einer PR-Kampagne pariert werden. „Eine perfekt inszenierte Theatershow war es“, sagt Speckhahn-Hass, der Chef von Di.Hako. „Jeder Griff, jedes Wort war geplant.“

Er zeigt die Fabrik, die Halle mit den computergesteuerten Maschinen, wo Präzisionsteile gefräst, geschnitten, gedreht werden. Und die Montagehalle. Da werden Menschen gebraucht, die alles zusammenbauen – wie der korpulente Jörn Patzer im roten Overall. Beim Nachdenken versinkt er in einem Abgrund. Beim Auftauchen aber fängt er an aufzuzählen, was er montiert: „Bremspedale, Absaugeinheit, Besenschwinge, Fahrgeber“ – er ist nicht zu stoppen.

Für die Kanzlerin spricht, dass sie den Betrieb besuchte. Und was spricht gegen sie? „Sie hat sich nur auf die Wirtschaftsaspekte bezogen“, sagt Speckhahn-Hass, „nicht auf die soziale Verantwortung, die Di.Hako eingeht und einfordert.“ Was zudem gegen sie spricht: dass sie den Ort links liegen ließ. Sie hätte Eis essen können bei Cini. Seine Eisdiele ist das Herz von Trappenkamp.

„Ja. Cini“, sagen die Leute, „und das Eis ist sehr gut.“ Eine Balustrade auf dem Trottoir, eine gelbe Markise – darunter zwängt sich tout Trappenkamp: Kinder, Väter, Mütter, Verrückte, Verliebte. „Es nervt mich, dass du dich nicht zu mir bekennst“, sagt eine junge Frau. Der Freund schaut gequält. Vor ihm das leere Glas.

Seit zwanzig Jahren haben die Cinis den Laden. Erst Vater, dann Sohn. Das Süße, das Schmelzende, das Leuchten in den Augen der Kinder, wenn sie vor der Eistheke stehen, spiegelt sich in seinem Gesicht. Er genießt die Zuneigung, saugt sie auf, verausgabt sich dabei – sieben Monate lang. Dann räumt er die Rattansessel ins Café, schließt es ab und verschwindet in die Dolomiten. Die Cinis sind menschliche Zugvögel. Trappenkamp sehnt den Sommer gleich doppelt herbei.

Der Ort gleicht einem chaotischen Feriendorf. Häuser, versteckt hinter Gärten, dazwischen Wohnblocks und drei neue Kirchen. Historisch sind nur die Bunker – nun Bungalows. Nach dem Krieg wurden im geräumten Munitionslager Vertriebene einquartiert. Sie brachten die Glasbläserei mit. Später ein Betonwerk, die Metallverarbeitung, das Wirtschaftswunder. Gastarbeiter wurden gebraucht. Andere kamen auch. Bootsflüchtlinge, Aussiedler, Kriegsflüchtlinge – vierzig verschiedene Nationalitäten in dem kleinen Ort. Und alle sagen, das Zusammenleben funktioniert. Cini sagt das. Die tunesischstämmige Frau, die ihren Enkel über den Sudetenplatz schiebt, sagt es. Die aus Holland stammende Marion Baumgartl, Kettenraucherin, die dem Kulturverein der Sudetendeutschen vorsteht, sagt es. Sie singt die Lieder, „Tief drin im Böhmerwald“, um ihrem verstorbenen Mann nahe zu sein. Heimat ist vieles.

Helmut Huf sagt es auch. Seine Eltern wurden 1947 nach Sibirien deportiert. In Gräben im Wald verbrachten sie den ersten Winter. Er kam 1953 zur Welt. Deutsche waren nicht gelitten. „Man versteht es“, sagt er und schaut aus dem Fenster seines Wohnzimmers, „der Krieg und so viel Leid.“ Wir müssen zurück in unser Vaterland, sagte der Vater oft. Aber er wurde von einem Auto überfahren. Jahre später, als die Mutter endlich ausreisen darf, wird sie an der gleichen Stelle von einem Auto erfasst. „Der Vater wollte doch nicht, dass sie ihn alleinlässt.“ Krankenpfleger ist Huf. Und im Gemeinderat. „Trappenkamp ist schön“, sagt er, „und so mitten im Wald.“

In dem Ort hat jeder eine Wandergeschichte. „Keiner kann sagen, ich bin Urtrappenkamper“, sagt Harald Krille. „Integration war für uns immer selbstverständlich.“ Krille vertritt den Bürgermeister. Er zählt auf, was sich die Gemeinde für den Zusammenhalt leistet. Schul-Sozialarbeit und sozialer Wohnungsbau etwa. Asylbewerber, Flüchtlinge, Aussiedler wurden in Wohnungen untergebracht und nie ghettoisiert. Das Jugendzentrum, das Schwimmbad, die Bibliothek – alle wollen, dass das bleibt. Alle, das sind eine Handvoll SPDler mit alten sozialdemokratischen Ideen. Dazu die Leute von der Trabi, der Trappenkamper Bürgerinitiative. Die CDU hat sich aufgelöst. FDP und Grüne sind auch nicht dabei.

Und noch etwas schweißt die Trappenkamper zusammen: Man feiert. Kaum ein Monat ohne Fest. Seit fünf Jahren zieht sogar eine Loveparade durch den Ort. Beim ersten Umzug wurde geprüft, ob die Lautstärke sich auf Herzschrittmacher auswirkt, wenn die Karawane am Seniorenheim vorbeifährt. Kein Problem. Jetzt sitzen die Alten vor ihrem Domizil und die DJs legen Schlager auf, wenn sie vorbeiziehen. Zweitausend Leute waren dieses Jahr da. „Ich find das toll“, sagt Ibrahim Bogdo.

Bogdo ist der, dem Merkel die Hand gab. Aus der Türkei ist er. An einem Freitag im März 1973 kam er in Trappenkamp an. Montag darauf stand er bei Hako am Band. „Zeit zum Deutsch lernen war keine“, sagt er mit schwerem Akzent. Und: „Trappenkamp ist jetzt meine Heimat.“ Er hat sich ein Häuschen gekauft mit großem Obstgarten. Im Sommer erinnert es ihn an Anatolien.

Er sitzt in der Sonne und erzählt, warum es geht mit der Integration. Fünfzig Familien im Ort seien aus der Türkei. Aber er kenne mehr Leute aus anderen Ländern. „Ich werde eingeladen und lade zurück ein.“ Bogdo ist Vorstand des internationalen Kulturvereins. Zuletzt war er in der Zeitung, weil er keinen Gebetsraum für die Muslime in der Schule will. „Nein“, sagt Bogdo, „dann ist die Neutralität weg.“ Die Kirchen sollen ihnen einen Gebetsraum geben. „Religion ist Religion.“

In Trappenkamp stehen die Türen offen. In Greven sind sie zu. Bei Münster liegt die Stadt, mit 35.000 Menschen. Geschniegelt ist sie im Backstein-Look. In den verklinkerten Fußgängerzone geht es vorbei an Tchibo, dem Schuhpark, der Rossmann-Filiale, dem Vodafone-Shop.

Aber die Stadt an sich? „Greven meinen Sie“, fragt die Frau, die mit Rollator im Café Niederort sitzt als einziger Gast. Und dann sprudelt sie los, dass sie in dem Jahr hierherzog, in dem der alte Biederlack – ein Unternehmer, Textilindustrie – seinen Neffen erschoss. Der Junge wollte nicht wie der Alte. Ein halbes Jahrhundert sei das her. Der Stadtskandal ist eine zeitliche Markierung in ihrem Leben. Die andere: der plötzliche Tod ihres Mannes. „Als hätt ich’s geahnt.“

Da mischt sich der Kellner ein. „Greven ist komisch“, sagt er und holt zum Schlag gegen „die Poahlbürger“ – die Pfahlbürger, die Alteingesessenen – aus. „Ohne die geht nichts.“ Andere sagen das auch: Die Frau auf der Kirchentreppe. Der Alte beim Marktbrunnen. Der Mann vor dem Rathaus. „Greven ist seltsam. Und zweite Heimat dazu“, sagt der. Welche die erste? „Griechenland.“ Kann man hier leben? „Wenn man sich nicht einmischt.“ Selbst Teenager, die sich an der Ems treffen, wirken ratlos. „Ganz schön“, sagen sie, sei es. Was könnt ihr machen? „Rumhängen.“ Sonst? „Da drüben ist das Labyrinth im Maisfeld“, sagt einer und zeigt auf den Acker.

Die Kanzlerin hat „Fiege“ besucht – ein alteingesessenes Fuhrunternehmen. Einsam steht die Konzernzentrale auf dem Gelände des 200.000 Quadratmeter großen Airportparks direkt am Flughafen Münster-Osnabrück. Der liegt in der fruchtbaren, sommersatten Landschaft auf Grevener Gemarkung.

Der Airportpark ist ein Lieblingskind der Grevener Stadtoberen. Für teures Geld kauften sie den Bauern vor Jahren dafür das Feld ab. Straßen wurden gelegt, eine Autobahnanbindung gebaut. An einer Ecke der Wiese steht eine Werbetafel: „Sie haben ihr Ziel erreicht – AirportPark“. Abgewaschen, ausgebleicht – die Tafel steht schon lange. Bisher kam keiner. Außer Fiege.

Merkel ist eingeflogen, hat sich rumführen lassen, eine Rede gehalten, ist weggeflogen. Genaueres ist nicht zu erfahren. Absperren für Merkel muss man den Flughafen kaum, viel los ist nicht. „Bitte lassen Sie Ihr Gepäck nicht unbeaufsichtigt.“ Eine Frau zerrt ihren Hund über den leeren Platz vor dem Eingang.

Etwa hundert Flugbewegungen mit 4.000 Passagieren hat der Flughafen – im Schnitt am Tag. Zuletzt waren die Fahrgastzahlen rückläufig. Trotzdem sollen die Startbahnen verlängert werden. Seit Jahren streitet man darüber vor Gericht. Für die Flughafengesellschaft spricht immerhin, dass sie keine Billigflieger subventioniert.

Greven ist Anteilseigner des Flughafens. Und Greven ist verschuldet. So verschuldet, dass sich der Ort unter Nothaushaltsrecht befindet und der Kommunalaufsicht unterliegt. Bei ungefähr 100 Millionen Euro soll die Verschuldung 2010 liegen. Tendenz steigend. Der Bürgermeister ist jedoch nicht zu sprechen.

Immerhin öffnet Wolfgang Hoppe die Tür. Ein Buchhändler, groß, mit grauem Haar, in der Mitte gescheitelt. Für die Grünen sitzt er im Gemeinderat. „Zu Mondpreisen hat die Stadt das Land für den Airportpark gekauft“, sagt er bedächtig. Mondpreise – er wiederholt es gern. So literarisch, so poetisch das Wort. Nach Sciencefiction klingt es. „Für Greven sieht’s schlecht aus.“

Wochen später widerspricht der Kämmerer am Telefon: Ja, das Feld sei teuer gekauft worden, aber die Verschuldung der Gemeinden habe viele Gründe. Die Wirtschafts- und Finanzkrise sei eine und auch, dass die Bundespolitik Entscheidungen trifft, die die Kommunen bezahlen müssen. Greven muss dieses Jahr fast 3 Millionen Euro mehr für Kinderbetreuung und Sozialaufwendungen ausgeben im Vergleich zu 2009 – bei sinkenden Steuereinnahmen. Weniger Steuern bekommt der Ort vor allem wegen der Steuergesetzgebung. Greven, das sieht auch der Kämmerer, ist ein Beispiel für die kommunale Verschuldung. Merkels Thema ist es nicht.

Neumarkt hat „Lammsbräu“ mit Biobier. Und „Bionorica“ mit der Pflanzenarznei. Und im Gegenteil zu Greven kaum Schulden. Wie eine Made hockt die Stadt im Speckgürtel von Nürnberg. „Es gibt keine Stadthalle, kein Theater, keine Eisbahn“, zählt Horst Wild am Telefon auf. „Gut, ’ne Eisbahn braucht’s net.“ Gäb’s das alles, hätte Neumarkt auch Schulden, meint der grüne Lokalpolitiker. „Meine Kinder müssen nach Nürnberg ins Kino.“ Aber was sich Merkel in Neumarkt hätte anschauen können, da ist er ratlos. „Ich zeig der Claudia Roth, wann’s kommt, auch lieber Lammsbräu, als was nicht so schön ist.“

Merkel hat sich für Bionorica entschieden. Pflanzliche Medikamente machen sie, Sinupret ist der Kassenschlager. „Das war für uns schon eine Ehre“, sagt Michael Popp, Chef von 900 Angestellten. Popp hat auf ein Gespräch mit ihr bestanden. Eins zum Tacheles reden. Er hätte da schon Vorschläge: dass die Wirksamkeit von Pflanzenarznei deklariert werden darf, etwa. Auch will er den reduzierten Mehrwertsteuersatz für Medikamente. Der Staat soll an Krankheit nicht verdienen. Zudem kritisiert er die Steuerprogression bei den Wenigverdienern. Deren Lohnerhöhungen werden von steigenden Steuerquoten aufgefressen. Merkel hat sich das angehört.

Aber das andere? Das, was sie nicht hört? Die Parolen auf der Fürther Straße in Nürnberg etwa. Während die Kanzlerin in Neumarkt ist, bangen 4.000 Leute dort um den Job. Quelle hatte einen Monat zuvor Insolvenz angemeldet.

„Merkel weilte, wo auch die Schickedanz war“, sagt Manuela Hernandez, „nämlich nicht hier.“ Madeleine Schickedanz, Quelle-Erbin. „Merkel hätte nicht mal kommen müssen, geheucheltes Interesse hätte gereicht.“ Hernandez war dreißig Jahre bei Quelle. Von der Ferienaushilfe zur Assistentin der Geschäftsführung hat sie’s gebracht.

Zusammen mit einer Kollegin sitzt sie in einem kleinen Café abseits der Fürther Straße. Chefsekretärinnen waren beide. Als klar war, dass Quelle kaputtgeht, hätten sie erst einmal einen Ramazotti getrunken. Und dann haben sie, zusammen mit drei Kolleginnen, als „Top-five-secretaries“ ein Plakat machen lassen: „Sekretärinnen suchen neuen Chef“. Monatelang hing es am Nürnberger Bahnhof. Perfekt sahen sie aus in weißen Blusen und dunklen Anzügen. Fernsehserientauglich – eine Handvoll entschlossene Frauen im Einsatz.

Jetzt jedoch ist wieder Alltag. Da fällt die Schminke dezenter aus. Alle fünf haben neue Jobs. Das liege an ihren Qualifikationen. „Staubgold nennt man uns auch“, sagt Hernandez. Dass allerdings nahezu alle ehemaligen Quelle-Leute wieder Arbeit hätten, wie es offiziell heißt, das hält sie für geschönte Statistik. „Die Leute hocken in unsinnigen Schulungen oder werden in Zeitarbeitsfirmen gestopft.“ Den Leuten ins Gesicht gespuckt sei das. Ihre Schwester mache jetzt den Lageristenführerschein. Die „halberte Familie“ sei bei Quelle gewesen. Mutter, Onkel, Tante. „Ich kenne so viele, die noch nichts haben.“

An der U-Bahn-Station Eberhardshof auf der Fürther Straße steht das Quelle-Gebäude. Jetzt sind die Scheiben verdreckt, einige mit Papier zugeklebt. Vor den Türen liegen Kippen, Schilder hängen schief, Mülleimer verrosten. Angesprochen auf den traurigen Anblick schimpft die Brezelverkäuferin am U-Bahnhof: „Von zwanzig Leuten fragt die Hälfte, wie das hier ist. Kaufen tun’s nix.“

Ungefähr sechs Kilometer ist die Fürther Straße lang. „Straße des Adlers“ heißt sie. Die erste Eisenbahn in Deutschland verkehrte hier. Bis heute ist offen, ob es ein Boulevard ist oder doch eine Bahntrasse, eine Ausfall- oder Industriestraße, schön oder hässlich. Stuckverzierte Wohnhäuser stehen neben kastigen Supermärkten, Juweliere neben Spielhallen, orientalische Lebensmittelläden neben Raum und Form, die mit Ikonen bemalte Kapelle der „rumänischen orthodoxen Metropolie“ unweit vom fränkischen Metzger, die „Fachmarie“ neben „Cosmic Styles“. Dazu das Epizentrum des wirtschaftlichen Niedergangs rund um den Eberhardtshof. Nicht nur Quelle hat hier aufgegeben. Die gegenüberliegenden Fabriken von AEG und Triumph-Adler wurden vor Jahren ebenfalls geschlossen. Zu allem steht auch das mit Skulpturen verzierte Gericht, in dem die Nürnberger Prozesse stattfanden, an der Fürther Straße. Hier wurden Hitlers Stellvertreter verurteilt und im angrenzenden Gefängnis hingerichtet. Bald soll der Gerichtssaal Weltkulturerbe sein.

Am Rand der Fürther Straße ernten zwei Männer in Trainingsanzügen kleine Pflaumen von einem der einbetonierten Bäume. Marmelade wollen sie kochen. Ob sie jemanden kennen, der bei Quelle arbeitete? Der Dunkelhäutige deutet auf seinen Kumpel. Der kam 1962 aus Italien. Seine Frau war 36 Jahre bei Quelle. Natürlich hat sie nichts, sagt der Mann in schwerstem italienisch angehauchten Fränkisch. „Zu alt.“ Nürnberger ist er. „Aber ich sag’s ehrlich: In einem Museum war ich noch nie.“

In Neuruppin hat die Kanzlerin einen Fan verloren. Martin Opitz heißt er. In seinem Unternehmen, das Merkel besuchte, werden Solaranlagen gebaut und was Opitz noch einfällt. Ein Solar-Windkraft-Ensemble etwa oder ein Wasserturm, der Sonnen- und Windenergie mit Wasserkraft verbindet.

Opitz ist zuständig für grünes Denken weit über die Brandenburger Garnisonsstadt hinaus, die so schön restauriert wurde, mit klassizistischen Häusern, weiten Plätzen, der Promenade am See. So schön, dass die Zeit stillsteht und Effi Briests Langeweile wie ein Echo auf allem liegt. Theodor Fontane ist hier geboren.

Schwarz-Gelb war Opitz’ politisches Traumteam. Er hatte gehofft, dass die Bundeskanzlerin und ihr Kabinett seine Sorge um den Mittelstand teilt. „Ich habe mich getäuscht.“ Der Unternehmer mit sechzig Angestellten sieht nur falsche Entscheidungen. „Gesundheitpolitisches, energiepolitisches, atompolitisches Rumgeeiere, nichts wird zu Ende gedacht. Als wüssten sie nicht, dass unsere Fußstapfen so sein müssen, dass andere in fünfzig Jahren auch noch reinpassen.“

Opitz, Mitte fünfzig und ein wenig atemlos, sieht Sachen, die die Regierung nicht sehen will. „Wir können doch nicht überall Dreck hinterlassen.“ Die CO2-Bilanz werde bei nichts mitgedacht. Er meint, wenn wir unten, auf der Erde schon Platz wegnehmen, dann soll er oben auf dem Dach wenigstens zum Stromerzeugen genutzt werden. Falsche Steuerpolitik sieht er auch. Er würde mehr Steuern zahlen – vorausgesetzt, sie würden genutzt, um die Welt zu gestalten, nicht zu zerstören. Die Fehler in der Bildungspolitik sieht er ebenfalls. „Wir müssen den Kindern klarmachen, was passiert. Die müssen die Eltern erziehen.“ – Das mit dem Sehen ist bei Opitz wörtlich gemeint. Sehen, erkennen, handeln. Sein Großvater hat es ihm eingehämmert. „Klauen sollst du nur mit den Augen.“

Nicht nur bei Opitz fällt Merkels Jahresbilanz mies aus, auch bei den Leuten vom Bündnis „Neuruppin bleibt bunt“, die am Weltfriedenstag im September in einer Demonstration die Karl-Marx-Straße entlangziehen. Sie wollen, dass Neuruppin mit seinen 30.000 Menschen weltoffen ist, obwohl sich Weltoffenheit im Stadtbild nicht spiegelt. Vor einem Jahr haben sie die Demo angemeldet, um zu verhindern, dass die Neonazis es tun.

„Die Nazis treten wieder stärker auf“, sagt ein gepiercter Zwanzigjähriger vom Jugendzentrum. Immer wieder gebe es Attacken mit Pfefferspray. „Und wir werden vorgeführt, weil Gewalt nicht unser Spiel ist.“ Wie vorgeführt? „Man will, dass alles auf rechts gegen links hinausläuft.“ Selber schuld, wenn ihr Demos macht und links seid, würden viele dann sagen.

Die Antifa arbeitet mit den Leuten zusammen, die sich für die Asylbewerber einsetzen. Diese sollen nicht länger in dem heruntergekommenen Plattenbau untergebracht werden, sondern in Wohnungen in der Stadt, fordern sie. „A little prison“ ist das Asylbewerberheim, sagt ein Kenianer. Gemeinsam mit drei Asylbewerberinnen sitzt er in einem der Zimmer. Eine Frau mit ihrem Baby wohnt hier. Eng stehen Betten, Babybadewanne, Sofas, Schränke, Kinderwagen, Couchtisch, Hausrat im Raum. Einzige Dekoration: Kuscheltiere. Die finden sie in den Kleiderstuben des Roten Kreuzes. „Wir waren aktive Leute“, sagt der Kenianer. „Jetzt sind wir nichts.“

Doris Rogmann ist in Sachen Asylbewerber in die Rolle der Vermittlerin gerutscht. So ungewöhnlich ihre Entwicklung von der SED-nahen Mitarbeiterin der Neuruppiner Nervenklinik über den Job der Avon-Managerin hin zur ehrenamtlichen Integrationsbeauftragten, so authentisch wirkt sie. „Die Neuruppiner sagen zu mir, ‚Asylbewerber stinken und nehmen uns die Arbeit weg.‘ Ich frage: ‚Kennt ihr einen, der euch die Arbeit weggenommen hat? Wisst ihr, dass sie gar nicht arbeiten, noch nicht mal Deutsch lernen dürfen?‘ “ Rogmann muss nicht lange nachdenken. Ihr Motto steht im Grundgesetz: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Nicht viele Leute kommen zur Demonstration. Aber die, die da sind, zeigen Gesicht. Auch der neue Landrat, Ralf Leonhardt. Jung, parteilos, mit dezent hochgekämmten Haaren. Sein Kommen kann nicht hoch genug geschätzt werden. Als träte Merkel auf einer bundesweiten Friedensdemo auf. Unvorstellbar das. „Danke für die Zeit, die Sie für Toleranz und Demokratie haben“, ruft der Jurist den Menschen zu. Wenn auch zaghaft.

Waltraud Schwab, sonntaz-Reporterin, war im Norden, Süden, Osten, Westen. Anders als Merkel war sie nicht noch bei Audi, Tengelmann, Schüco, Silbitz Guss und dem Columbus Verlag

Dieter Jüdt, Illustrator, gebürtiger Franke, findet, dass die Fürther Straße genauso ist wie in der Reportage beschrieben