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Archiv-Artikel

NACHBARIN WEINT Vielleicht morgen

Ich will klingeln und will es wiederum auch nicht

Seit ein paar Tagen weint meine Nachbarin. Sie wohnt ein Stockwerk tiefer als ich. Wenn ich nachts nach Hause komme, höre ich sie hinter ihrer Haustür weinen. Es ist ein seelentiefes, herzzerreißendes Weinen.

Weshalb weint meine Nachbarin? Ist ihre Mutter oder ihr Vater gestorben? Wurde sie von ihrem Geliebten verlassen? Was ist passiert? Obwohl wir seit vielen Jahren Nachbarn sind, weiß ich nichts von ihr. Wir grüßen uns freundlich im Treppenhaus. Sie hat einen Hund. Der Hund lebt noch.

Tagsüber lächelt sie, tut so, als ob nichts geschehen sei. Aber Nacht für Nacht höre ich sie weinen. Manchmal durchmischt sich ihr Weinen mit der Musik von Leonard Cohen. Ich würde gerne an ihre Tür klopfen, sie umarmen, sie trösten oder ihr einfach nur zuhören. Aber ich traue mich nicht.

Einfach an ihre Tür zu klopfen, beruhige ich mein schlechtes Gewissen, wäre eine Überschreitung der Privatsphäre. Nein, ich kann da nicht einfach hingehen und sie fragen, ob sie Hilfe braucht. Aber warum eigentlich nicht? Vor was habe ich Angst? Vor einer peinlichen Situation? Oder ist es sogar so, dass ich nichts mit der Trauer meiner Nachbarin zu tun haben möchte? Zu viel Verantwortung?

Als ich ein Kind war, starb der alte Mann in der Nachbarwohnung. Es war Sommer, Tag für Tag nahm der Gestank aus seiner Wohnung zu. Meine Mutter rief den Notarzt. Sie brachen die Tür auf, er war bereits seit einigen Tagen tot. Und was, frage ich mich, wenn sich deine Nachbarin etwas antun wird. Werde ich es dann bereuen, ihr nicht geholfen zu haben?

Es ist Freitagnacht. Ich bin angetrunken. Ich öffne die Haustür, steige die Treppen hinauf. Sie weint schon wieder. Ich bleibe vor ihrer Tür stehen. Ich will klingeln und will es wiederum auch nicht. Dann gehe ich weiter und denke: vielleicht morgen, vielleicht morgen. ALEM GRABOVAC