piwik no script img

Archiv-Artikel

Es lebe die Differenz

Der Lyriker, Romancier und Theoretiker Édouard Glissant rettete die Eröffnung des diesjährigen Internationalen Literaturfestivals in Berlin

Die Schönheit der Welt,so Édouart Glissant, braucht die Spannung, die aus Differenz resultiert

VON ANNE KRAUME

Zum sechsten Mal hat am Dienstag das Internationale Literaturfestival Berlin begonnen; zum zweiten Mal in Folge ist das Wilmersdorfer Haus der Berliner Festspiele der zentrale Austragungsort für dieses Festival, das von seinen Organisatoren immer wieder gern zum kulturellen Großereignis mit politischem Anspruch stilisiert wird. Nicht zuletzt deshalb findet das vage Déjà-vu-Gefühl aus den ersten Minuten dieses Ereignisses – der hereinbrechende Abend vor den großen Fenstern des Festspielhauses, das Gedränge im Foyer und die Heerscharen von Praktikantinnen mit Pferdeschwanz, die versuchen, das Publikum irgendwie in geordnete Bahnen und auf seine Plätze zu lenken – schnell Bestätigung, wenn man den Begrüßungsansprachen dieser Organisatoren lauscht: Das hat man nicht nur so oder so ähnlich im letzten Jahr schon gesehen, das hat man damals auch so oder so ähnlich schon gehört.

Da spricht der Intendant der Berliner Festspiele, Joachim Sartorius, davon, dass es sich bei dem Internationalen Literaturfestival um ein „Festival mit Ereignischarakter“ handele, und während man sich noch fragt, ob das nicht auf jedes andere Festival auch zutrifft, erklärt Sartorius, was er damit für einen Anspruch verbindet: auf keinen Fall wolle man ein „Festival der Harmlosigkeiten“ sein. Was das große Ganze des Literaturfestivals angeht, so setze man auf eine „Strategie der Überwältigung durch schiere Größe“. In der Tat. Angesichts der 45 Seiten des Programmhefts, auf denen für die kommenden zehn Tage Lesungen von 125 Autoren aus insgesamt 46 Ländern angekündigt werden, lässt sich eine Überwältigung des Lesers nicht ausschließen.

Aber, so Sartorius weiter: aus der Überforderung des Publikums könne schließlich auch eine „angenehme Entspanntheit“ resultieren. Davon ist allerdings einstweilen wenig zu bemerken. Stattdessen stellt sich vor allem während des fahrigen Grußworts des Festivalleiters Ulrich Schreiber eine eher unentspannte Ungeduld ein. Während Schreiber einmal mehr nachdrücklich um Mittel aus dem Bundeshaushalt wirbt und überrascht feststellen muss, dass Kultursenator Thomas Flierl, den er eigentlich hatte begrüßen wollen, das Festspielhaus längst schon wieder verlassen hat; während er schließlich den diesjährigen Schwerpunkt „Frankophonie“ anzukündigen versucht, sich dabei in nebulösen Andeutungen von der Kreolisierung verliert, „die die ganze Welt erfasst“, und nicht zuletzt für sich und sein Festival eine „Grundhaltung links von der Mitte“ reklamiert – während all dieser Denkwürdigkeiten wächst links von der Mitte des Festspielhauses im Publikum das Gegrummel: Eigentlich hatte man nicht so sehr Schreiber als vielmehr den Lyriker, Romancier und Theoretiker Édouard Glissant aus Martinique hören wollen, der die Eröffnungsrede des Festivals halten sollte.

Tat er dann schließlich auch. Und diese Rede versöhnte mit manchem, was den Abend vorher so schwer erträglich gemacht hatte. Ein „Lob der Unterschiedlichkeiten und der Differenz“ wollte Glissants Ansprache sein, und er trug dieses Lob der Unterschiedlichkeiten sitzend vor, mit einer Stimme, die brüchig war und die immer wieder verloren zu gehen drohte (am Tag drauf wurde bekannt, dass er nach dem Auftritt mit einem Schwächeanfall ins Krankenhaus gehen musste) –, aber die gerade dadurch eine Aufmerksamkeit forderte und auch erhielt, die nach den Grußworten vorher schon ganz unwahrscheinlich geworden war. In Édouard Glissants Rede war der vorher so heftig formulierte politische Anspruch des Literaturfestivals auf eine sehr zurückhaltende Art und Weise eingelöst – womöglich einfach dadurch, dass diese Rede so dicht war und dass sie trotz ihres poetischen Gehaltes ohne viel Worte auszukommen schien.

Einen Mangel an Schönheit in der Welt konstatierte Glissant, und er definierte die Schönheit ausgehend von der Spannung, die aus den Unterschiedlichkeiten und der Differenz resultiere. Dieses Bewusstsein für die Unterschiedlichkeiten ist nun bei Glissant ebenso politisch wie poetisch zu verstehen – und deshalb konnte er davon ausgehend auch ebenso auf die afrikanischen Einwanderer vor den Toren Spaniens und Europas zu sprechen kommen wie auf das Wesen der Kunst, die ein „Streben hin zur Realisierung der Menge an Differenzen auf der Welt“ sei. Eine „Politik der Beziehung“ forderte er ebenso wie eine „Poetik der Beziehung“ – allerdings müsse beides erst noch erfunden werden. Der Anspruch aber, den Glissant mit seiner Parallelisierung von Politik und Poetik formuliert, überzeugte schließlich weit mehr als die vollmundigen „Links von der Mitte“-Bekundungen von Ulrich Schreiber zuvor. Und so mag man endlich erst, nachdem man Édouard Glissant gehört hat, vielleicht doch dem Wunsch entsprechen, den Schreiber vorher geäußert hatte: Es sollten doch einmal „bessere Artikel“ über das Internationale Literaturfestival geschrieben werden, hatte er gesagt. Also denn: vielleicht ist dies ja ein Anfang.