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Archiv-Artikel

Berliner Platten Magengefühle: Sanagi machen Musik, die schwer im Magen liegt – geschwind aus dem Magen in die Beine hingegen steigen die neuen Stücke von A Guy Called Gerald

A Guy Called Gerald: „Proto Acid – The Berlin Sessions“ (Laboratory Instinct)

Wer seine Platte „Mish Mash“ nennt und auf dem Cover eine mit Essiggurke, Fleischwurst und verschiedenen, undefinierbaren, eher unappetitlichen Zutaten belegte Pizza abbildet, der macht wohl schwer verdauliche Musik. Sanagi sind ein Duo, das die klassische Arbeitsaufteilung aus den späten 90er-Jahren, als TripHop die Musik der Stunde war, reaktiviert: Allerdings produzieren Sängerin Lene Toje und ihr für die musikalische Umsetzung zuständiger Kompagnon Robin Sato keine stahlblauen Elektro-Balladen im Andenken an Portishead. Jedenfalls nicht nur: Die Norwegerin und der in London geborene Japaner, die zusammen in Liverpool studierten und nun in Berlin leben, bevorzugen einen geradezu verwegenen, nachgerade postmodernen, schwer einzuordnenden, ähem, Mischmasch. Eben.

Mal schlüpft Toje in die Figur der Kinderbuchprotagonistin „Pippi“, um dann in „Dirty“ den Westcoast-Gangsta-Rap durch den Kakao zu ziehen, mal wird Missy Elliott nachgeäfft, im nächsten Atemzug deklamiert wie bei Brecht/Weill und schließlich die Folk-Sau rausgelassen wie bei Tojes Landsleuten vom Kaizers Orchestra. In anderen Songs wieder betreibt das Duo – zumindest bisweilen – recht ernsthaft das Popgeschäft: In „Lunatic“ knistert und knuspert es wie in der Welt von Björk, und „Bang Bang“ könnte auch von Morcheeba stammen, jedenfalls bis Toje so zu singen beginnt, wie Nina Hagen grimassiert und Sato die bis dahin elegant tröpfelnden Beats zum Karnevalsmarsch mutieren lässt. Dieses Delirium zwischen Vokalakrobatik und programmierter Pop-Comedy liest sich abschreckender, als es sich anhört, aber einen gewissen Sinn für Humor der weniger diffizilen Sorte sollte man schon haben, sonst schlägt einem dieser „Mish Mash“ womöglich auf den Magen.

Sanagi: „Mish Mash“ (Traumton/Indigo); Record Release, 9. 9., Café Größenwahn

Auch nicht ganz ungefährlich fürs Bauchgefühl ist das letzte Werk von Gerald Simpson, der mit 808 State zum Acid-House-Pionier wurde und auch anschließend die Londoner Techno-Szene entscheidend prägte. Denn der lässt als A Guy Called Gerald auf „Proto Acid – The Berlin Sessions“ mal wieder ganz altmodisch die Bassdrum los. Bei entsprechender Lautstärke graben sich die Frequenzen tief in die Magengrube, von wo aus sie – wie auch immer das anatomisch funktionieren könnte – irgendwann die Beine in Bewegung setzen. Der Mann aus Manchester, der über den Umweg New York mittlerweile in Berlin gelandet ist, spürt auf dieser Zusammenstellung aus 24 Tracks konzentriert seinen Wurzeln nach und programmiert traditionsbewusst britischen Jungle und Detroiter Techno, der kühl schillert und erst zwischen den flatternden Beats mit wenigen fantasievollen Farbtupfern aufwartet. Die – bis auf „Auto Rebuild“ – ausnahmslos im vergangenen Jahr entstandenen Stücke sind bisweilen stumpf, bisweilen federleicht, immer hypnotisch, garantiert ohne Gesang und bilden in der Abfolge den Soundtrack für eine Nacht in der Großstadt. Das ist so aus einem Guss, eben gerade das Gegenteil von Mischmasch, das könnte niemals mit einer Pizza bebildert werden. THOMAS WINKLER