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Archiv-Artikel

Die Welt vom vorbeifahrenden Zug aus gesehen

METATEXTDISKURS Neulich, als ich mal wieder zu viel Zeit in der Bahn hatte. Mit einer abfälligen Geste ziehe ich mir die Hose runter. Kann ein Autor alles machen – das ist Literatur. Oder? Einige Betrachtungen über das Wesen des Prosaschreibens

Soeben befand ich mich in einem „Essay“. Und nun bin ich Teil einer Erzählung

Wenn ich sonntags mit dem Zug an einem Fußballplatz vorüberfahre, starre ich solange wie möglich hin, weil ich immer hoffe, wenigstens ein einziges Mal exakt den Moment abzupassen, in dem ein Tor fällt. Was dahintersteckt, weiß ich nicht. Habe ich als Kind zu wenig Tore gesehen? Ist der Zufall für mich zentrales Medium innerhalb einer parareligiösen Erweckungstheorie, die auf den Grundpfeilern Statistik, Zwangsneurose und Deutsche Bahn AG beruht? Oder bin ich einfach nur bissi doof?

Ich tendiere ja zu bissi doof. Bissi doof ist auch überhaupt nicht schlimm. Aber ich frage mich schon manchmal, also wenn ich gerade beim besten Willen gar nichts Vernünftiges zu tun habe, dann frage ich mich, warum ich nicht mit gleicher Intensität auf eine längs der Bahnlinie verlaufende Straße blicke, ob da in diesem Moment vielleicht ein Unfall passiert. Das wäre doch in der Tat erst recht ein feiner Erfolg: von weitem wie Ameisen um ihren zerstörten Bau, um Autowracks herumwuselnde Gestalten – und ich schön dabei und zum Glück nicht mittendrin und gleich schon wieder weg. Oder auf am Wagenfenster vorbeifliegende Häuser, ob dort im selben Moment ein Brand ausbricht. Das wäre immerhin weit spektakulärer als ein auf einem x- beliebigen Amateurbolzplatz in Folge einer ellenlangen Kette katastrophaler Abwehrschnitzer von einem kickenden Bierfass mit Schnauzbart hineingestümpertes Zufallstor.

Das mit dem Tor finde ich irgendwie schöner. Insgeheim hoffe ich jedoch, dass sich das Torerlebnis solange wie möglich hinauszögert. Was wäre denn, wenn ich das Tor endlich gesehen hätte? Ein brennender Wunsch ist erfüllt, ein ersehntes Ziel ist erreicht, ein Tor ist gefallen. Und nun? Leere! Ich werde nie wieder aus einem fahrenden Zug auf Fußballplätze gucken. Stattdessen muss ich die Mitreisenden mustern. Die ahnen nicht, warum. Was wissen die schon? Die sind so blöd.

Rasch habe ich genug. Wie von Zauberhand stoppe ich den Zug. Das muss man sich mal vorstellen – so etwas geht im Grunde nur in der Literatur. Selbst in der Malerei ist man eingeschränkter – wenn du ne Birne gemalt hast, hast du ne Birne gemalt. Bumms, fertig, aus die Maus. Beim Schreiben bin ich dagegen absolut ungebunden: Ich heble die Gesetze der Schwerkraft aus, schlage der Realität ein Schnippchen und sprenge zugleich innerhalb eines Textes die Grenzen der verschiedenen Genres.

Soeben befand ich mich noch inmitten einer Art „Essay“, wie Angeber das selbstverliebte Gelaber über irgendein Thema unter Verzicht auf Spannung oder Stringenz nennen, und nun bin ich auf einmal Teil einer Erzählung. Leichtfüßig springe ich vom Zug und schlendere mit unnachahmlicher Eleganz nach vorne, wo die Dampflok zischt. Die Damen und Herren Mitreisenden können nämlich ruhig mit einer designermöbelbefeuerten Dampflok weiterfahren, von mir aus dahin, wo der Pfeffer wächst. Sie glotzen bescheuert aus den Fenstern. Die wissen immer noch nicht, was los ist. Mit einer abfälligen Geste ziehe ich mir die Hose runter. Kann ich alles machen – das ist Literatur. Anschließend die Unterhose, und dann. Nee, doch nicht. Was ist, wenn Mutter das jetzt liest? Es gibt auch die Freiheit, sich selbst Schranken aufzuerlegen.

„Auf Gleis 2 dahin, wo der Pfeffer wächst – Vorsicht bei der Abfahrt des Zuges“, pfeife ich das Signal laut auf zwei Fingern, was ich in Wirklichkeit gar nicht kann. Dann marschiere ich mit geschlossener Hose stracks in den Wald. Unterwegs haue ich irgendwem, einfach so, volle Pulle in die Fresse. Es gibt Tage, da hat man auf so etwas Lust, und hier, in der Literatur, leiste ich mir das schlicht.

Ich wandere bis zu einem Ameisenhaufen. In dem stochere ich mit meinem goldenen Spazierstock. Die Ameisen wuseln aufgeregt herum, wie Gestalten um ihre verunfallten Autowracks. Ich werde mal eben zu einer von ihnen und latsche direkt ins Schlafzimmer der Ameisenkönigin. Die ist kaum überrascht – sie scheint was von Literatur zu verstehen. „Tach auch, Hübsche“, sage ich, „wie wär’s mit uns beiden?“ Sie ist nicht abgeneigt. Die Details erspare ich mir mal, auch wegen Mutter. Nur so viel: Ameisen werden im Bett total unterschätzt. Während wir uns im Whirlpool entspannen, zwickt sie mich neckisch mit ihren Beißerchen. Ihre Säure tut weh, ihre Säure tut gut. „Bissi doof bist du schon, Süßer“, flüstert sie, „bissi sehr doof.“

Um ein Haar hätte ich Berlin-Südkreuz verschlafen. Ein Tor habe ich auch diesmal nicht gesehen. ULI HANNEMANN