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Archiv-Artikel

Rückt die Republik nach rechts?Ja

KOORDINATEN Erst warf Thilo Sarrazin Muslimen Dummheit vor, jetzt wettert CSU-Chef Horst Seehofer gegen Araber und Türken. Es scheint, als würden sich Grenzen verschieben

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Die sonntazfrage wird vorab online gestellt. Immer Dienstagmittag. Wir wählen interessante LerserInnenantworten aus und drucken sie in der nächsten sonntaz.

taz.de/sonntazstreit

Guntram Schneider, 59, ist SPD-Politiker und Integrationsminister in Nordrhein-Westfalen

Die Gefahr wächst. Während sich in unseren Nachbarländern rechtspopulistische Parteien auf einem hohen Niveau etabliert haben, war ein Le Pen oder Jörg Haider hier bisher undenkbar. Vielleicht fehlt den Rechten bei uns nur der richtige Frontmann – deren Rhetorik aber löst sich von den Stammtischen und findet auf unerträgliche Weise Einzug in den öffentlichen Diskurs. Ich hoffe, dass es gelingt, den politischen Anstand in der so notwendigen Integrationsdebatte nicht dem Populismus preiszugeben. Das politische Koordinatensystem in Deutschland definiert sich seit einigen Jahren neu; politische Lagerkategorien von rechts und links sind nicht länger ungebrochen gültig. Gefordert ist eine neue Geschäftsordnung, die mehr Miteinander zwischen Gesellschaft und Politik ermöglicht und neue Partizipationsformen hervorbringt. Dies wäre der wirksamste Schutz gegen rechts.

Sabine Schiffer, 43, ist Gründerin und Leiterin des Instituts für Medienverantwortung in ErlangenAuch wenn Rechtsparteien nicht in dem Maß gewählt werden wie in anderen Ländern: Es gibt wichtige Signale für ein Driften nach rechts. Pro-Bewegungen übernehmen die Rolle rechtsextremer Parteien. Und die Idee vom „nützlichen Menschen“ macht sich breit, legitimiert die Ausgrenzung von Alten, Hartz-IV-lern, Ossis, Muslimen und stützt noch den wirtschaftspolitischen Kurs. Nach der „Ausländer“-Debatte der 1990er Jahre mitsamt ihren Pogromen reagierte die Politik ähnlich wie heute: „Die Ängste der Menschen (= Deutschen) ernst nehmen!“ Wer aber Stimmen am rechten Rand einfangen will, ohne zu fragen, wie „Rechtspopulismus“ hoffähig gemacht wird, stärkt Nationalismus und Rassismus. Als „Zuwanderungsregelung“ wurde die Quasi-Abschaffung des Asylrechts verkauft. Heute sterben die Globalisierungsverlierer an den EU-Grenzen. Kampagnen wie „Kinder statt Inder“ sprachen dem „Multikulti“-Konzept hohn. Antiislamische Ressentiments werden seit Jahrzehnten geschürt und nun von Sarrazin bis Seehofer abgeschöpft. Es gibt keinen Rechtsruck, sondern ein beständiges Rücken nach rechts – ins grundgesetzliche Aus.

Sevim Dagdelen, 35, ist integrationspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion der LinkenDie Fremdenfeindlichkeit von vielen ist weder Schicksal noch Zufall. Sie ist das Ergebnis von Politik. Flankiert durch die Medien. Von Politikern von Seehofer bis Gabriel getragene rechtspopulistische Debatten über „integrationsunwillige“, „nützliche“ und „unnütze“ Migranten haben Vorurteile hervorgerufen. Angesichts der Krise wird das weiter zunehmen: Je heftiger die Verteilungskämpfe werden, desto stärker wird versucht, von der Verteilungsfrage abzulenken. Die Bevölkerung darf auf die Teile-und-herrsche-Politik auf dem Rücken von Minderheiten nicht hereinfallen. Nur, wenn die Menschen begreifen, dass das Problem in Deutschland weder die Migranten noch die Armen sind, sondern eine Politik ist, die Ausgrenzung und Armut produziert und dann versucht, sich der Migranten und Armen zu entledigen, wird die Bevölkerung im Vergleich zur herrschenden Politik nicht nach rechts rücken.

Stephan Kaufmann, 45, ist Kinderbuchautor und hat seinen Kommentar auf taz.de gestellt

Es ist klar, die Stimmung im Land wird fremdenfeindlicher. Die breite Mittelschicht hat plötzlich wieder Angst vor dem Absturz. Diese Angst beflügelt die Ablehnung von allem Unbekannten, beispielsweise dem Islam, und Undurchschaubarem. Wie eine real gewordene Metapher wird die Burka das prominente Ziel dieser Angst. Diese Angst ist kein Monopol der Rechten. Ich sehe keinen Rechtsrutsch in Deutschland, aber einen Drift zu mehr Intoleranz und grausamer Vereinfachung komplexer Zusammenhänge.

NEIN

Charlotte Knobloch, 77, ist Präsidentin des Zentralrates der Juden in Deutschland.

Ganz offensichtlich geht ein Ruck durch Deutschland. Ein Rechtsruck? Ich denke, nicht. Wer jemals versucht hat, einen anderen Menschen zu ändern, weiß: keine Chance. Kein Staat, kein Volk rückt plötzlich nach links oder nach rechts. Allenfalls sinkt die Hemmschwelle, die eigene, gefestigte Meinung in eine gesellschaftliche Diskussion einzubringen – sei es in Buchform, als Artikel, als Leserbrief oder durch die Beteiligung an Demonstrationen. Der öffentliche Meinungsbildungs- und Meinungsäußerungsprozess fällt aktuell ein wenig öffentlicher und lauter aus, als wir das in der Bundesrepublik Deutschland gewohnt sind. Das ist per se ein demokratischer Vorgang. Schließlich ereifern sich nicht nur jene kleinen und großen rechtsgedrehten Demagogen, die zum Zündeln aus ihren Löchern gekrochen sind. Vielmehr erleben wir ebenso viele mündige und aufrechte Menschen in diesem Land, die jenen Menschenfängern entschlossen entgegentreten. In einer freiheitlich-demokratischen und pluralistischen Gesellschaft ist es ganz normal, dass regelmäßig eine Seite – rechts oder links – versucht, neue moralische und sozialverträgliche Grenzen auszuloten. Für die nötige soziale Balance im Staat ist allein entscheidend, dass gleichzeitig die jeweils andere Seite dann ihre Seismografen eicht und rechtzeitig sagt: „Bis hierhin und nicht weiter!“

Aktham Suliman, 40, ist Deutschland-Korrespondent für den Nachrichtensender al-Dschasira

Nicht einen Millimeter ist Deutschland nach rechts gerückt. Hat die Republik denn je das Rechte hinter sich gelassen, so dass wir über ein vermeintlich erneutes Rücken nach rechts sprechen könnten? Nein, keine Sorge! Denn die Republik ist genau dort geblieben, wo sie der alte Konrad Adenauer kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gelassen hat, nämlich rechts. Gelegentlich konnte die Republik ihr schon immer nach rechts liebäugelndes Gesicht hinter bestimmten Ereignissen verstecken. So waren angeblich die Ostdeutschen und nicht etwa das konservative Bürgertum für die Angriffe auf Ausländer in den 1990er Jahren verantwortlich. Doch das Konservative und Rechte der Republik zeigte sich gerade in dieser Sicht auf die Ostdeutschen. So wie es den „Türken“ in den 70ern, den „Ausländern“ und den „Ossis“ in den 90ern erging, geht es den „Muslimen“ heute. Denn das konservativ-rechte Lager– das es auch in der SPD gibt – braucht eine sozial und wirtschaftlich schwache Gruppe, die Angriffsfläche bietet. Und es braucht eine aufgeheizte Atmosphäre innerhalb und außerhalb des Landes, die einen solchen Angriff möglich macht. So gesehen gehört der Islam inzwischen tatsächlich zu Deutschland.

Serkan Tören, 38, ist integrationspolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion der FDP

Unser Land rückt nicht nach rechts. Eine zugespitzte Art der Debattenkultur darf allerdings nicht unsachlich werden. Es muss eine offene „Pro und contra“-Diskussion über die Probleme der Zuwanderer möglich sein. Zielführend ist eine pragmatische Debatte mit einer Vorgabe an die hier lebenden Migranten. Der gesellschaftliche Diskurs und die intellektuelle Auseinandersetzung mit einem Thema sind ein ganz normaler demokratischer Prozess. Dieser Prozess darf nicht verwechselt werden mit einem Rechtsruck. Unabhängig davon gibt es natürlich immer Menschen in einer Gesellschaft, die versuchen Ängste zu schüren. Dies entbindet uns aber nicht von der Pflicht, Lösungen für die bestehenden Zuwanderungs- und Integrationsprobleme zu finden. Wir als Liberale lehnen eine Deutschenfeindlichkeit an Berliner Schulen und im öffentlichen Nahverkehr genauso ab wie Ressentiments gegenüber dem Islam. Insgesamt ist die Integration von Zuwanderern in Deutschland aber eine Erfolgsgeschichte. Probleme prozentualer Minderheiten sollten zwar benannt, aber nicht immer als repräsentativ dargestellt werden. Aus liberaler Perspektive müssen Zuwanderer die gebotenen Chancen einer weltoffenen Gesellschaft ergreifen.