: Auswirkungen der Gründerzeit
Keine Tage des wirklichen Neuanfangs, aber doch Tage der Konsolidierung: Auf der Frankfurter Buchmesse zeichneten sich die Strukturen der literarischen Landschaft nach den heroischen Zeiten von Grass, Walser und Co ab – immerhin! Ein Nachbericht
VON DIRK KNIPPHALS
Günter Grass kam am Freitag auf die Messe, und siehe: Das war wie immer. Wie von selbst stellte sich das immer gleiche Verfahren her: Star kommt, Zuschauertraube entsteht, die Kunde macht die Runde, und alle gehen dann mal kurz gucken. Gegen all das ist ja auch gar nichts zu sagen, schließlich bekommt jeder, was er haben will: Grass seinen Auftritt, der Verlag seine Presse, die Buchmesse ihre Schlagzeile und der Zuschauer das Gefühl, etwas erlebt zu haben. Nur ob so ein Ereignis die Literatur repräsentiert, ist schon die Frage.
Deren Stellung bei dem Großereignis, das täglich um die 50.000 Menschen in die Messehallen lockte und gestern zu Ende ging, ist prekärer, als man zunächst denken mag. Es geht in Frankfurt um Kochbücher, Ratgeberbücher, Comics, Lesebändchen; die Literatur im engeren Sinn ist nur ein Spartenprogramm. Um sich ihren Anteil an der Aufmerksamkeit zu sichern, muss sie sich gleichsam auf die Zehenspitzen stellen – was sie mit dem Deutschen Buchpreis inzwischen auch tut, was ihr darüber hinaus aber nicht immer geglückt ist. Wie die Nachrichtenagenturen melden, zieht das Gastland Indien eine zufriedene Bilanz. Die mit der Suchmaschine Google Print aufscheinende Möglichkeit einer vollständigen Verfügbarkeit alles gedruckten Wissens wurde diskutiert. Aber ein genuin literarisches Thema hat es über die Grenzen der Expertengespräche hinaus nicht auf die allgemeine Agenda geschafft.
Wie der Fall Grass lehrt, braucht es dazu derzeit irgendeine Anbindung an die Nazizeit und jemanden, der kräftig auf die Pauke hat (wie bei Grass die FAZ). Die eigentlichen Bestseller der jüngeren Zeit – Daniel Kehlmann vorneweg, Arno Geiger hintendran, „Das Parfüm“ auch wieder oder etwa ein Richard Powers – werden gelesen, ohne dass es dabei zu großen öffentlichen Debatten kommen würde. Lesen, scheint es, ist derzeit ein Privatvergnügen. Immerhin, kann man sagen. Die guten Bücher kommen gut aus, ohne dass ein Literaturbetrieb seinen Kunstsegen dazugeben muss.
Dennoch war es keine Messe des Stillstands. Was sie interessant machte, waren die vielen kleinen Verschiebungen innerhalb des Literaturbetriebs, die sich – wenn man den Chor an Stimmen und Eindrücken, den sechs Tage Messe im eigenen Kopf bewirken, richtig deutet – mittlerweile zu einem Muster verdichten: Dies war zwar noch nicht die Messe des wirklich durchgesetzten Neuanfangs einer prosperierenden literarischen Landschaft nach den Helden Grassreichranickiwalserenzensbergersuhrkamp. Aber es war doch immerhin die Messe, von der aus – noch mit Vorsicht gesagt – die vergangenen zehn Jahre als literarische Gründerzeit beschrieben werden können. Und deren Ergebnisse verfestigen nun ihre internen Strukturen.
Eine Tendenz zur Konsolidierung, die sich auf vielen Feldern festmachen lässt. Was die Autoren betrifft, so war dies nicht die Messe der Debütanten, aber die der dritten und vierten Bücher. Viele der verhandelten Namen – Dietmar Dath, Katharina Hacker, Gregor Hens, Christoph Peters, Tobias Hülswitt, Feridun Zaimoglu, Thomas Hettche – haben ungefähr seit Mitte der Neunziger debütiert und nun einen Selbstverständlichkeitsgrad der Namensnennung erreicht, der die Vermittlungsinstanzen dazu zwingt, bei ihren Büchern genauer hinzugucken; einfach nur „neu“ reicht als Gütesiegel nicht mehr. Ob Alexander Fest bei Rowohlt oder Jörg Bong bei Fischer, es ist in diesem Zeitraum auch eine Verlegergeneration ans Ruder gekommen, die das Krisengerede – Wegbegleiter der Großverlage für lange Zeit! – entscheidend gedämpft hat.
Neu gegründete Kleinverlage wie Blumenbar, Verbrecher, Tropen oder Tisch 7 müssen auch nicht mehr das Thema der Saison sein, weil sie inzwischen selbstverständlich mitspielen. Und auf dem Feld der Literaturvermittlung dürfen eine Reihe medialer Experimente als durchgesetzt gelten – sei es Elke Heidenreichs Markierung interessanter Bücher durch schiere Popularität, sei es eher auf der Gegenseite die Zeitschrift Literaturen, sei es die Homestorisierung der Kritik in der Sonntags-FAZ, oder sei es der Versuch, eine TV-Büchersendung auf Augenhöhe mit aktueller Popsmartness zu produzieren, wie Denis Scheck das in der ARD macht. Es gibt mittlerweile einen Kanon von Namen, Institutionen und eingespielten Mechanismen, die dafür sorgen könnten, dass sich die nächste große Literaturdebatte mal nicht um die Nazivergangenheit dreht und auch nicht – zuletzt die andere Marketingschiene – mehr mit diesem Hoppla-jetzt-komm-ich-Drive auftreten muss wie noch Popliteratur und angebliches neues deutsches Mädchenwunder.
Unübersichtlich genug sind diese Verschiebungen noch. Und es kann ja auch viel schiefgehen. Wie sich diese Lage auf die Literatur auswirken wird und wie sich innerhalb dieses Kanons die Beziehungen und Hackordnungen endgültig herstellen werden, die sich in Konsolidierungsphasen immer herstellen, wird man sehen. Eines bedeutet das alles aber unbedingt: Die Zeit ist wieder bereit für genuin ästhetischen Streit – und mit dem Deutschen Buchpreis hat der inzwischen auch einen institutionalisierten Anlass. Selbstverständlich gibt es den einen besten Roman des Jahres, der prämiert werden soll, gar nicht. Aber diese Fiktion sichert den Wettstreit zwischen unterschiedlichen ästhetischen Ansätzen, der – wer weiß? – noch mehr Schwung in die interne Ausdifferenzierung der Literaturlandschaft bringt.
Auf dieser Buchmesse ist die Debatte, ob Katharina Hacker oder Thomas Hettche den Preis bekommen soll, erst mal noch im Wesentlichen intern geführt worden (Katharina Hacker entschied sie mit vier zu drei Jurorenstimmen für sich). Die Chance ist da, dass so ein Wettstreit schon kommendes Jahr die Literatur repräsentiert. Wäre ja auch mal wieder nicht schlecht.