: Abendbrot aus der Biotonne
Immer mehr Menschen suchen ihr Essen in den Müllcontainern der Geschäfte. Gefragt sind vor allem abgelaufene Produkte aus Bioläden. „Ressourcen schonend“ und „politisch vegan“ heißt das in der Szene. Doch die Jagd nach Nahrung wird härter
VON SOPHIE HAARHAUS
Batti S. hockt auf einer Mauer im Hinterhof eines Supermarkts. Vor ihm stehen volle Abfallcontainer: Verpackungsmüll, Biomüll, Restmüll. Geübt beugt er sich über eine geöffnete Tonne, durchsucht den Müll und sortiert aus. „Den Rucola kannst du gleich liegen lassen, der ist immer schlecht“, sagt er, als er sich zur Biotonne vorgearbeitet hat. Er findet Brokkoli, Paprika und sogar Bohnen. Im Neonlicht, das den Hinterhof beleuchtet, prüft der 24-Jährige genau, was noch zu gebrauchen ist.
Wer wie Batti, der nur mit seinem Vornamen angesprochen werden will, Essen aus dem Container holt, „findet“ oder „containert“. Suchen, wühlen und graben tut niemand. Batti nimmt sich eine aussortierte Holzkiste vom Stapel und klemmt sie auf den Gepäckträger seines Fahrrades. „Einmal haben wir sogar fünf Kilo Erste-Klasse-Spargel gefunden“, erzählt er und fischt zwei Packungen abgelaufene Schlagsahne aus dem Container, die er auch noch auf dem Rad verstaut.
In Berlin holen sich immer mehr Leute ihr Essen aus den Müllcontainern großer Geschäfte. Besonders beliebt: der Abfall von Bioläden. Die haben jetzt mit ihrem Ruf in der Szene zu kämpfen, besonders freundlich zu sein und besonders gesunde Lebensmittel zu haben. Denn die Läden machen sich strafbar, wenn sie Produkte, deren Verfallsdatum abgelaufen ist, in Umlauf bringen. Außerdem haben sie Angst, dass ihre Kunden sich ekeln vor Menschen, die im Müll wühlen – vor allem aber gehen die Menschen, die das Essen aus dem Müll ziehen, nicht mehr einkaufen.
So ist ein Kampf um den Müll entbrannt. Seit einiger Zeit schließen immer mehr Großhändler ihren Müll weg. „Vorsicht Rattengift“, steht neuerdings neben den Containern eines Biohändlers im Industriegebiet. „Früher, als unser Laden noch kleiner war, haben wir gerne unsere Reste weggegeben“, erzählt die Geschäftsleiterin eines großen Bioladens. „Wenn man sieht, dass die Menschen das Essen wirklich brauchen, dann will man sie ja auch nicht wegschicken“, sagt sie. Irgendwann, als der Laden größer wurde, kamen dann diejenigen, die ganze Wohngemeinschaften mit den Resten des Bioladens versorgen. „Das sind Leute, die auch einkaufen könnten.“ Seitdem hängt in ihrem Laden ein Zettel. Darauf steht, dass die Mitarbeiter alle, die nach Resten fragen, wegschicken sollen.
Batti ist einer von denen, die abgewiesen werden. Was er und seine WG nicht im Bioladen oder beim Biobauern kaufen, wird „containert“. „Das ist einfach der beste Weg, um an Essen zu kommen“, findet er. Angefangen hat alles, als Batti von Dortmund nach Neukölln zog. Als er sah, wie viel Essen der Gemüsehändler in seiner Straße wegwarf, bat er darum, das Aussortierte mitnehmen zu dürfen. Dabei habe er sogar noch ein bisschen Türkisch gelernt, erzählt Batti. „Dann habe ich das Containern Schritt für Schritt professionalisiert.“
In seiner WG wird die Suche nach alternativen Wege, an Essen zu kommen, längst reflektiert. „Ethisch vertretbar“ müsse es sein, meint Batti, der am Küchentisch sitzt und in der Jungle World blättert. „Ressourcen schonend“, sagt seine Mitbewohnerin Steff, die aus dem eben „containerten“ Essen das Abendbrot zubereitet. „Containern“ sei beides, findet sie: Denn das Essen werde ja, wenn es aus dem Müll kommt, nicht extra für einen hergestellt. „Politisch vegan“ nennt Batti das.
Steff hat in diesem Sommer beim Ladies-Festival ein Seminar über „Containern“ gegeben. „Die meisten Leute kamen mit so einer Art diffusen Kapitalismuskritik“, erzählt sie. Viele wüssten gar nicht, was man alles „containern“ könne. Auch beim Baumarkt oder beim Teppichhändler würde ab und zu etwas weggeschmissen, was man so nicht kaufen müsse. Neben Steff auf dem Küchentisch liegt das Buch „Rad kaputt? Einfälle statt Abfälle“.
Was Steff den Leuten gesagt hat, die in ihrem Seminar „containern“ lernen wollten? „Seid nett, unauffällig und hinterlasst keinen Müll.“ Batti hält sich an diese Regeln, wenn er mit dem Rad zum Supermarkt in seiner Nähe fährt und im Hinterhof die Container durchsucht. Das macht er meistens, wenn die Läden schon geschlossen haben und die Mitarbeiter nach Hause gegangen sind. „Dann ist es am einfachsten“, sagt er. Wer einmal mehr findet, als er essen kann, bringt das überschüssige Essen zu einem Treffpunkt. Das sind oft große Wohngemeinschaften, in denen „Containertes“ getauscht und die Reste abgeholt werden können. Die Szene, in der Essen „containert“ wird, ist gerade dabei, ein sogenanntes Gratisnetzwerk einzurichten. Dort wird das Essen umverteilt – und versucht, mehr Menschen für die „Umsonstökonomie“ zu gewinnen.
In der Containerszene werden jetzt neue Möglichkeiten gesucht, um trotz verschlossener Container und Ärger mit den Bioläden an die Reste zu kommen. Schon kursieren in linksalternativen Foren im Internet Listen, welche Geschäfte sich am besten zum „Containern“ eignen. Ganz oben auf der Liste: Biogroßhändler im Industriegebiet. „Bis zu dreißig Leute kommen jede Nacht“, erzählt ein Großhändler aus Neukölln. Man spricht hier nicht gerne darüber – schon gar nicht mit der Presse. „Wenn wir Überschuss produzieren, spenden wir den“, sagt er ausweichend. „Aber alles, was abgelaufen ist, dürfen wir nicht weggeben“. Jetzt hat er sich den Trick mit der Warnung vor Rattengift ausgedacht.
Andreas Gevert* und Philip Brüning* arbeiten in der Gemüseabteilung eines Biodiscounters. Auch sie haben die Vorgaben, alles in die Tonne zu werfen, was im Geschäft aussortiert wird. Die beiden Männer stehen in grünen Schürzen im Hinterhof des Ladens und trennen sich von abgelaufenen Lebensmitteln. „Das tut schon weh manchmal, die Sachen einfach so wegzuschmeißen“, sagt Brüning und wirft eine Kiste weich gewordene Tomaten in die gelbe Biotonne. „Obwohl sie so gut noch jemand essen könnte.“
So ganz halten sich Brüning und Gevert nicht an die Anweisungen, die „von oben“ kommen. Jeden Tag kommen Leute, um in den Containern zu wühlen. „Manchmal müssen wir sie wegschicken“, erzählt Gevert. Gerne tut er das nicht. Aber er kann die Haltung der Chefs auch verstehen: „Es ist ja wirklich unappetitlich“, sagt er, „wenn jemand hier im Müll wühlt und das dann die Kunden sehen“. Aber oft fällt es ihnen schwer, die Leute wegzujagen. Dann sagen sie ihnen, sie sollen später noch einmal wiederkommen. Manchmal können sie ihnen dann die besten Sachen raussuchen. „Am besten ist es, wenn die Leute erst nach 21 Uhr kommen“, sagt Brüning, während er Pfandflaschen sortiert. Denn da sind die Mitarbeiter schon nach Hause gegangen. „Und wenn wir nicht da sind, dann können wir sie ja auch nicht wegschicken.“
Brüning und Gevert kennen die Leute, die über den Parkplatz kommen und am Hintereingang nach Resten fragen oder die Container durchsuchen. „Es kommen immer öfter solche Leute wie die, die man auf dem Alexanderplatz trifft“, erzählt Gevert. „Sie tragen völlig zerrissene Kleidung. Und sie haben wirklich Hunger. Dann kann ich das Essen doch nicht einfach so wegschmeißen.“ Batti und seine Freunde kennen solche Leute nicht. Man redet nicht darüber, warum man gekommen ist, wenn man sich beim „Containern“ trifft, meint er. Sie gehören nicht dazu, zu der Szene, in der das Essen „gesammelt“ und dann verteilt wird. Zu Gevert und Brüning an die Tür kommen sie trotzdem: Die, die wirklich darauf angewiesen sind, sich ihr Essen aus dem Müll zu holen. Die, die mit gesenktem Blick um Essen bitten und am liebsten nicht gesehen werden würden. Und sie werden mehr, sagt Gevert.
Natürlich kommen auch die Leute aus den Wohngemeinschaften, erzählt Brüning. Die kennen sie schon. Wenn keiner guckt, geben sie auch denen etwas. Aber über die müsse man sich schon manchmal ärgern. „Einmal haben wir gesehen, wie die Leute hier unseren Müll ausgeräumt haben. Wir haben ihnen sogar noch die besten Sachen gegeben. Und dann sind sie in den Laden gegangen und haben gekauft, was sie im Müll nicht gefunden haben“, sagt Brüning.
Batti wurde in den letzten Wochen zweimal beim „Containern“ erwischt und weggejagt. An seinem Weg, sich Essen zu beschaffen, hindert ihn jedoch keiner. Wenn der Laden geschlossen hat, kommt er trotzdem wieder. Als er das letzte Mal im Halbdunkeln zum Supermarkt fuhr, war der Weg in den Hinterhof versperrt und die Container weggeschlossen. „Vielleicht haben sie mich hier zu oft gesehen“, überlegt Batti und bleibt vor dem geschlossenen Tor stehen. „Aber es schadet ja niemandem, wenn ich nehme, was sowieso weggeworfen wird“, sagt er und springt über den Zaun.
* Namen v. d. Red. geändert