: Eine Nacht im Club der wilden Mädchen
Charmant ist gar kein Ausdruck: The Pipettes aus England spielten im Lido und begeisterten mit Showdance und Polka-Dot-Kleidchen. Ihr Bubblegumpop kennt nur zwei Themen: die Liebe und die Disco. Das machte aber nichts
Zuerst sah es so aus: Müde, dunkelhaarige Frauen gehen auf ein Konzert einer Band mit Wasserstoffblondinen. Dann aber war es so: Der Lärm, der einem am Eingang des Lido entgegenschlug, kam von der Vorband, die sich zwar The Michelles nannte, aber aus vier jungen wilden Männern bestand, die sich mit absichtlich durchwuselten Frisuren und leicht albernem Bühnengehabe selbst etwas zu geil fanden. Ein Gentleman kümmert sich um sein Aussehen und redet nicht darüber, fiel uns als Maßstab ein.
Irgendwie sahen sie ein wenig aus wie die englische Version von Tokio Hotel – eine Pointe, die sie mit einer Widmung ihres besten Songs an ebendiese Boyband aus Magdeburg gleich wieder kaputtmachten. Ansonsten bemühten sich die Michelles, ihrem Gerumpel möglichst wenig Struktur zu geben. Also ganz so, wie es ihre großen Vorbilder, die Libertines, machten.
The Pipettes gaben den erfrischenden Gegenpart dazu. Ihre Bubblegumpop-Stücke handeln von nichts weiter als der Liebe und manchmal von der Disco. Da geht es um Jungs in Schuluniform, ums Angelächeltwerden im Schulkorridor, um One-Night-Stands und den Schwur der ewigen Liebe. Zwischendurch werden dann Arme gereckt und Seitenschritte gemacht, wird mit den Händen gerudert und mit den Hüften gewackelt.
Die drei Pipettes – Becki, Gwen und Rose – trugen Polka-Dot-Kleidchen und wechselten munter Hauptstimme, Keyboardspielen und Tanzposition. Im Hintergrund hielten sich vier Herren in Anzügen, die Cassettes, und gaben die Musik vor. Natürlich orientierte sich diese stark an den 60er-Jahren, an Größen von Motown bis Liverpool, stets wagte sie aber auch den Sprung in die Discoseligkeit von Abba oder Blondie.
Mit dem oft vielstimmigen Gesang der Mädels ergab das ebendiese Mischung eines unglaublich bunten Kaugummis – eine Haudrauf-Gutelaunemusik, wie man sie schon lange nicht mehr hören durfte. Bananarama? Zu ernsthaft. Die Spice Girls? Zu schmutzig. Hier war alles hell und klar, pink und wasserstoffblond. Charmant ist gar kein Ausdruck.
Die Tanzschritte sahen meistens sehr ulkig aus, so gerade eben aus der Ironie gerettet oder eben mit der nötigen, feinen Ironie vorgeführt. Ebenso der Gesang der drei, der ohnehin an den fürs Lido üblichen technischen Problemen zu leiden hatte. Die Jungs im Hintergrund machten alles richtig, die Songs waren kurz und knapp, exakt auf den Punkt gespielt, ohne Schnörkel und Soli. Was natürlich auch hieß, dass das Konzert nicht all- zu lange dauern konnte. Fast kein Song über zwei Minuten dreißig! Was gut so war, denn insgesamt blieb der Ansatz immer derselbe: Disco oder Liebe, Liebe oder Disco. Dabei erreichten nicht alle Songs die Qualität ihrer (inzwischen zahlreichen) Singles.
Besonders gut wurde es immer dann, wenn ein knackiger Discobeat gespielt wurde. Auf echtem Schlagzeug. Das durchmischte Publikum im nicht ganz vollen Lido tanzte dazu zwar nicht so, wie sich die Band das vorstellte, gab sich aber sehr enthusiastisch.
Überhaupt konnte man sich die Pipettes als 1a-Hochzeitskapellen-Besetzung für Leute vorstellen, die mit Anfang 20 heiraten und trotzdem cool geblieben sind. Eine gute Party ist garantiert. Oder als ständige Begleitband für die noch zu erfindende englische Telenovela. Eine, die tougher und straighter ist als die ganz netten, aber immer noch nicht ernst zu nehmenden deutschen. Die müsste dann „Your Disco Needs You“ heißen oder „Der Club der wilden Mädchen“. Becki, Gwenno und Rose würde sicher was dazu einfallen.
RENE HAMANN