: Ist das Ruhrgebiet Unterschicht?
Müsste die Debatte um die „neue Unterschicht“ nicht eigentlich im Ruhrpott spielen? Hier wo die Betuchten, die Gebildeten längst fliehen und nur die Armen, die Zugewanderten zurück bleiben. Oder tickt das Revier immer noch ganz anders? Sozialer? Solidarischer? Klassenbewusster?
JA
Im Ruhrgebiet alt zu werden, ist für eine Zugewanderte aus Süddeutschland eine Horrorvorstellung. Denn über dem Revier hängt ein grauer, depressiver Schleier, den die dort Aufgewachsenen nicht mehr wahrnehmen. Ja, das Ruhrgebiet ist grüner, als man erwartet. Kaputte Straßen, graue Häuserfassaden und Beton-Bahnhöfe sind auch kein Alleinstellungsmerkmal der Revierstädte, kennzeichnen auch andere hoch verschuldete Kommunen in Westdeutschland. Was die Gegend so depressiv macht, sind ihre Bewohner. Die Perspektivlosigkeit steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Und Perspektivlosigkeit ist das Merkmal, das die so genannte Unterschicht ausmacht. Das Ruhrgebiet ist Unterschicht.
Jeder Zweite scheint im Revier Kettenraucher zu sein. Biertrinken auf der Straße und in den öffentlichen Verkehrsmitteln gehört zum Alltag. Kneipen mit Großstadtflair, obwohl sie rar sind, machen unter der Woche um Mitternacht zu – weil kein Gast mehr da ist. Die Studenten, von denen es im Ruhrgebiet viele gibt, prägen die Städte nicht mit. Sie bleiben abends im Wohnheim und fahren am Wochenende zu ihren Eltern. Junge Mittelschichts-Familien wollen ihren Kinder die Tristesse der Städte nicht zumuten und flüchten an die grünen Ränder des Ruhrgebiets. Wenn auf den Straßen von Dortmund, Bochum oder Gelsenkirchen gute Stimmung ist, dann ist der Grund fast immer ein Fußballspiel.
Der Strukturwandel hat viele Verlierer und wenig Gewinner hervorgebracht. Am stärksten bündeln sich das Prekariat, wie die Unterschicht neuerdings genannt wird, in den früheren Arbeitervierteln. Da wo Jugendliche schon sagen: „Ich werd Hartz IV“, gibt es keine überquillenden Bücherregale, geht keiner in ein Konzert oder zu einer Lesung. Alleinerziehende Mütter bewegen sich zwischen Wohnung, Supermarkt und Spielplatz. Die Jugendlichen lungern auf der Straße herum oder in Internet-Cafes. Sie sprechen ein verstümmeltes Deutsch, unabhängig von ihrer Herkunft. Viele von ihnen haben die Schule abgebrochen, nicht einmal einen Hauptschulabschluss. Auf einen Ausbildungsplatz haben sie praktisch keine Chance: Denn in Städten wie Dortmund, Gelsenkirchen oder Essen müssen sich vier Bewerber um einen Ausbildungsplatz prügeln.
Und es gibt keine Aussicht auf Besserung: Der Bergbau wird in absehbarer Zeit ganz eingestellt. Es gibt kaum Unternehmen, die sich neu im Revier ansiedeln. Bei einem gleichzeitigen Abbau des Sozialstaats, ist die Ausweitung des Prekariats fürs Ruhrgebiet schon programmiert. Jeder, der kann, rettet sich in eine hoffnungsvollere Gegend. Die Unterschicht bleibt hier.NATALIE WIESMANN
NEIN
Beim Häuten der Zwiebel stößt die diskutierende Klasse gerne auf so genannte „unbequeme Wahrheiten“. Die neueste nennt sich „neue Unterschicht“ – 6,5 Millionen Angehörige des Prekariats ließen erst den SPD-Vorsitzenden aufheulen und dann die Talkshow-Vollversammlung. Eine harmlose Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung über mentale Befindlichkeiten wurde zum Armutsbericht hochgelobt, zum Megathema, auch weil gerade Opfer zu beklagen waren – misshandelte Kinder, tote Jungen und Mädchen aus zerrütteten Verhältnissen.
Seither schreiben sich viele Zeitungen wie von selbst mit Gänsehaut-Features voll, gewürzt mit Bildern weit unter der Klischeegrenze. Und so gerät auch das Ruhrgebiet – obschon ohne Kinderopfer – in den Fokus: Hier ein Foto, das „Essen-Katernberg“ zu zeigen vorgibt, aber doch nur einen Haufen Sperrmüll zeigt. Dort eine Straßenszene aus Gelsenkirchen: Mietshäuser, Satellitenantennen, Fahrzeuge – fast komisch steht dazu: „Fernsehen und Autos sind der einzige Luxus“. Wieder einmal muss der Pott ein Beispiel geben für „white trash“, für die Abgehängten unserer Gesellschaft. Doch zum Glück ist es wie immer: Je näher man dran ist, desto schärfer wird das Bild.
Auch deshalb wird die Unterschichtsdebatte in NRW unaufgeregt geführt – klappt der Klassiker vom Verlierer-Revier nicht mehr. Selbst der sonst so gern als Sozialpapst wirkende Ministerpräsident Jürgen Rüttgers klinkt sich nicht ein. Kein Wunder, er hat vor einem Jahr in einem Buch alles aufgeschrieben. Damals hatte sein Amtsvorgänger Peer Steinbrück (SPD) gerade bekundet, er wolle Politik nur noch für jene machen, die etwas für die Zukunft tun. Rüttgers nannte das unsozial, beschwor Anerkennungsgerechtigkeit, Chancengleichheit und Solidarität und zitierte Ralf Dahrendorf: „Eine Politik, die darauf besteht, dass Arbeitslose keine Unterstützung bekommen sollen, wenn sie nicht aktiv Arbeit suchen, ist zerstörerisch für die Freiheit.“
Der Pott funktioniert aber nicht nur deshalb schlecht als Unterschichtslandschaft, weil wir es bei der Debatte sowieso mit einer Verzerrung zu tun haben, die von planlosen Politikern dazu genutzt wird, Ängste zu schüren, um in der Wagenburg das Sagen zu haben. Nein, das Ruhrgebiet ist trotz trauriger Distrikte und Schwindsucht nicht „neue Unterschicht“, weil es hier eine Tradition gibt, mit sozialen Schieflagen umzugehen. Trotz Strukturwandel, nachlassender Bindekraft von Arbeiterkultur gibt es noch so etwas wie Stolz und Solidarität. Wer hier von Schichten spricht, hat Angst und keine Antworten. CHRISTOPH SCHURIAN