: Mit den Jahren steigt der Pegel
AUS ESSEN MIRIAM BUNJES
Von Lili Hermann* hätte das niemand gedacht. Zuverlässig, gründlich, erfolgreich hat die Buchhalterin ihr Leben lang gearbeitet. Jetzt ist sie 80, zierlich, mit Kurzhaarschnitt. Die Worte, die ihr wichtig sind, unterstreicht sie mit den Händen. Wichtig sind vor allem „neu“ und „Chance“. Denn Lili Hermann war ganz unten. „Vor 20 Monaten musste ich mich entscheiden“, sagt die Essenerin. „Entweder ich sterbe oder ich fange noch einmal von vorne an.“
Als sie diese Entscheidung treffen musste, lag sie auf dem Fußboden und hatte seit Tagen nicht mehr gegessen. Nur getrunken: Jägermeister, Schnaps, Kognak und Rotwein. „So lange trinken, bis es drin bleibt“, war ihre Devise an Tagen wie diesen. Am Ende waren alle Tage so. Wenn die damals 79-Jährige gegen Mitternacht ins Bett ging, nahm sie den letzten Schluck Schnaps. Um Punkt drei war sie hellwach, musste wieder trinken. „Einfach aus der Flasche“, sagt sie. „So etwas Niedriges, ich könnte heute noch weinen, dass ich mich so degradiert habe.“
Statt zu weinen dreht sie an den goldenen Knöpfen ihres Kostüms und sagt: „An diesem Tag bin ich zum zweiten Mal geboren.“ Seit dem 8. März hat Lili Hermann keinen Tropfen mehr angerührt. Für Männer und Frauen in ihrem Alter ist so eine Entscheidung selten. „Warum sollte man Oma ihr Gläschen Wein in den letzten Jahren verbieten? Die meisten sind überzeugt, dass sich das nicht mehr lohnt“, sagt Bodo Lieb von der Klinik für abhängiges Verhalten und Suchtmedizin der Universität Duisburg-Essen. Dabei sind mindestens 400.000 Menschen über 60 Alkoholiker, schätzt die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen in Hamm. 3,5 Millionen trinken Alkohol in „riskanten Mengen“. Und die Zahlen werden steigen, sagt Assistenzarzt Lieb. „Die 68er-Generation hat einen unkritischen Umgang mit Alkohol und anderen Rauschmitteln“, sagt der Neurologe. „Auf Deutschland rollt eine riesige Welle älterer Suchtkranker zu.“
Alkoholambulanz
Denn wer mit 40 problemlos jeden Abend eine halbe Flasche Rotwein trinken konnte, kann mit derselben Menge mit 60 Alkoholiker werden. Der Körper verträgt weniger, weil die Leber langsamer arbeitet und weil der Wasseranteil im Körper im Alter abnimmt. So verteilt sich die gleiche Menge Alkohol auf weniger Körperflüssigkeit, der Pegel steigt – und mit ihm die Gefahr, ohne Alkohol nicht mehr zu funktionieren. Mit diesem Druck leben viele ältere Menschen, hat Bodo Lieb in der Essener Alkoholambulanz beobachtet.
Spezielle Angebote für sie gibt es kaum. Die nur auf Ältere ausgerichtete Einzel- und Gruppentherapie, die Bodo Lieb mit seiner Kollegin Meike Rosien und seinem Chef Norbert Scherbaum entwickelt hat, ist bundesweit einzigartig. Heute startet die Pilotstudie, die das erste deutsche Alkohol-Therapie-Programm für Menschen ab 60 wissenschaftlich untersuchen soll. „Inzwischen machen sich immer mehr Suchttherapieeinrichtungen Gedanken über alte Süchtige“, sagt Christa Merfert-Diete von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen. „Wir sind gespannt auf die Ergebnisse.“
Dora Siebert* hat in ihrer Alkohol-Therapie vor vier Jahren nur wenig gesagt. Damals war sie 76, die meisten der Mitpatienten waren zwischen 30 und 40. Sie erzählten von ihren Kindern, von ihren Schulden und was sie sonst noch den ganzen Tag machten. Ganz andere Dinge jedenfalls als Dora Siebert. „Damit konnte ich nichts anfangen“, sagt die heute 80-Jährige. „Die ganze Therapie hat mir sehr wenig gebracht.“ Ein paar Wochen bleibt sie trocken, dann trinkt sie doch wieder ein Gläschen Wein mit ihrem Ehemann. „Dabei bleibt es dann ja nicht“, sagt sie und streckt ihre manikürten Hände aus. „Kein Zittern“, sagt sie zufrieden. „Wenn ich aufhöre zu trinken, geht es mir sofort wieder gut.“
Bei vielen älteren Patienten Bodo Liebs ist Alkohol erst spät in ihrem Leben zum Problem geworden. 1997 starb Dora Sieberts erster Mann, damals war sie über 70. Sie hatte ihr ganzes Leben mit ihm verbracht. Auch ihr Arbeitsleben war seit Jahren vorbei. „Immer öfter habe ich mir dann ein Bier aufgemacht, ziemlich schnell auch schon mittags.“ Sie lernte einen neuen Mann kennen. „Er ist kein Alkoholiker, aber er trinkt viel Wein“, sagt Dora Siebert. Sie fing auch an, Wein zu trinken. „Bald hat der Wein dann mein ganzes Leben bestimmt, ohne funktionierte gar nichts mehr, mit aber auch nicht.“
„Typischerweise haben ältere Suchtkranke geliebte Menschen verloren, das gehört zu dem Lebensabschnitt dazu“, sagt Bodo Lieb. „In einer Gruppe mit Gleichaltrigen stoßen sie auf viel Verständnis für diesen Kummer.“ Und typischerweise trennen sich ältere Menschen nicht mehr so leicht von ihren Partnern, auch wenn deren Verhalten ihnen das Loskommen von der Flasche nicht einfach macht. In Dora Sieberts Wohnung steht eine offene Bar mit „allem, was man sich vorstellen kann“. Jeden Abend stellt ihr Mann eine Flasche Rotwein auf den Tisch, dem sie widerstehen muss. „Wenn ich ein Glas trinke, fängt alles wieder von vorne an“, sagt sie. „Ich will das nie wieder.“
Erst vor zwei Monaten hatte sie einen Rückfall: mit dem Wein, von dem sie jahrelang zwei Flaschen täglich trank. Aus der Therapie fliegt man dafür nicht in Bodo Liebs „60Plus“-Gruppe. „Wir konnten den Rückfall ziemlich schnell begrenzen“, sagt er. „Dafür, dass ich schon eine Karriere hinter mir habe, ging es gut“, sagt Dora Siebert und streicht sich durch die sorgfältig gelegten Locken. 20 Jahre lang hat sie als junge Frau Schlaftabletten geschluckt, weil sie nicht einschlafen konnte, aber am nächsten Tag von morgens bis abends arbeiten musste. Ihr Mann und sie hatten sich nach dem Krieg mit einem Sauna-Betrieb selbstständig gemacht. „Die ersten Jahre musste ich noch nebenher arbeiten, damit das Geld reicht.“ Ein kleines Kind hatte sie auch. Deshalb warf sie sich morgens noch ein paar Aufputschmittel rein, damit sie funktionierte. „Bis 1968 bekam ich das alles ohne Rezept in der Apotheke“, erzählt sie. Als die Mittel rezeptpflichtig wurden, erzählte sie in den Apotheken, sie sei auf der Durchreise und habe das Rezept vergessen. „Das klappte sehr gut.“ Nach 20 Jahren entzog sie, machte eine Therapie, hatte nie wieder Probleme mit Tabletten. „Suchtkrank bin ich wohl geblieben“, sagt sie.
Im Unterschied zu vielen hat sie sich Hilfe geholt. „Scham spielt in dieser Generation eine große Rolle“, sagt Bodo Lieb. „Das sieht man daran, dass in den Hilfeeinrichtungen für Süchtige kaum Menschen über 60 auftauchen.“ 27 Prozent aller Deutschen sind über 60, in Suchtkliniken sind aber gerade einmal fünf Prozent aller Patienten so alt. „Für Ältere ist Sucht ein größeres Tabu, sie ordnen ihre eigene Sucht in die Kategorie „Laster“ ein, die es für Jüngere gar nicht mehr gibt“, sagt Lieb. „Und weil sie oft nicht mehr arbeiten, können sie ihre Trinkerei sehr gut vor anderen verstecken. Wenn eine alte Dame auf der Straße stolpert, fragt sie sehr wahrscheinlich niemand, ob sie zu viel getrunken hat.“
Schleichend abhängig
Auch Lili Hermann war es nicht peinlich, sich Hilfe zu holen. „Alkoholikerin bin ich erst seit 1993“, sagt sie. „Wobei ich immer gerne Alkohol getrunken habe.“ Schleichend sei das immer mehr geworden. Ihr Leben lang hat sie mit ihrer Mutter zusammengewohnt, lange merkte auch die nicht, was mit ihrer Tochter los war. Lili Hermann ließ sich immer wieder in einem Essener Krankenhaus entgiften. „Den Entzug habe ich bestimmt 30 Mal mitgemacht“, sagt sie. „Jetzt habe ich eine Therapie, in der ich mich aufgehoben fühle.“ Sie schreibt an einem Buch über ihr Leben, ist in eine Seniorenwohnung gezogen und kümmert sich um Leute, denen es schlecht geht. „Ich habe mich selbst wieder zurück“, sagt sie. „Wenn ich noch ein paar Jahre so weitermachen kann, bin ich zufrieden mit meinem Leben.“
* Namen geändert
Für ihre Pilotstudie sucht die Suchtklinik Essen Menschen über 60, die an einer ambulanten Therapie für Alkoholabhängige teilnehmen wollen. Telefon: 0201/7227-330 oder -509