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Archiv-Artikel

Das Symbol Brokdorf

Vor 30 Jahren erlebte die Anti-Atomkraftbewegung nach der Bauplatzbesetzung des AKW Brokdorf eine immense Dynamik. Schlachten an Bauzäunen zeigten aber auch die Grenzen der Militanz auf

VON KAI VON APPEN, FRITZ STORIM UND UWE ZABEL

Der Nachmittag des 30. Oktober 1976 ist ein nebliger und verregneter Tag, wie er im Norden zu dieser Zeit normal ist. Tagelang hatte es genieselt, der Boden der Wilster Marsch ist matschig. Dass der graue Samstag zu einem denkwürdigen Datum werden sollte, ahnte in der Region daher niemand.

Und das, obwohl die Zeichen eigentlich auf Sturm stehen: Wenige Tage zuvor hatte die Atomkraftwerks-Betreiberfirma Nordwestdeutsche Kernkraftwerks AG (NWK) ein Areal am Rande des schleswig-holsteinischen Dorfes Brokdorf in der Wilster Marsch in einer Nacht- und Nebel-Aktion gekapert. Werkschützer sichern seither das Terrain rund um die Wettern – wie die natürlichen Wassergräben heißen – mit Reizsprüh-Geräten und gefährlichem Nato-Draht. Diese borstigen und silbernen Drähte, in denen sich Menschen leicht verheddern, verursachen scheußliche, schwere Wunden.

Ein weiteres AKW

Ein weiterer Atommeiler der an der Elbe rund 40 geplanten AKWs soll für die Hamburgischen Electricitäts-Werke (HEW) – die heute dem schwedischen Energiekonzern Vattenfall gehören – in Bau gehen. Die HEW bauten in jener Zeit bereits im allgemeinen Industrialisierungs-Wahn des Hamburger SPD-Wirtschaftssenators Helmuth Kern an der Elbe parallel die Atomkraftwerke Stade (Inbetriebnahme: 1972) am niedersächsischen Ufer sowie gegenüber in Dithmarschen den Reaktor Brunsbüttel (Inbetriebnahme: 1977) und den Reaktor in Krümmel bei Geesthacht (Inbetriebnahme 1984).

Die Anwohner der Region lassen sich durch den Coup nicht schocken. Die Hamburger Anti-AKW-Aktivistin Almuth Lüthje und einige Weggefährten – zum Teil hochkarätige Wissenschaftler des Arbeitskreises „Politische Ökologie“ und der Bremer Physiker Jens Scheer – hatten auf die Region schon längst ein Auge geworfen und sich auf den „Tag X“ vorbereitet. Da die Bauern bei den gesetzlichen Anhörungen von den Behörden schikaniert wurden, war nun praktischer Widerstand angesagt.

Auch wenn die DemonstrantInnen an jenem 30. Oktober 1976 frühzeitig vor dem Bauplatz in der Nachbargemeinde Wewelsfleth gestoppt werden, marschieren sie im Friesennerz und Gummistiefeln über die Straßen, Schleichwege und Wiesen entlang der Wettern nach Brokdorf, um nach kilometerlangen Märschen an ihr Ziel zu kommen. Der pazifistische Song begleitet sie: „Wehrt euch, leistet Widerstand, gegen die Atomkraft im Land“, so der Refrain, „...schließt Euch fest zusammen....“ Das Lied sollte zum Kampfruf der Anti-AKW-Bewegung werden.

Die Konfrontation nimmt ihren Lauf. Mit Drahtscheren ausgestattet schnippen die 8.000 DemonstrantInnen die Zäune auf, Bauern und Anwohner werfen als Transparente getarnte Teppiche auf die Nato-Draht-Barrieren, um diese unverletzt zu überwinden. Leute machen sich an Leitplanken der so genannten NWK-Stichstraße zu schaffen, liften sie aus dem feuchten Boden, um sie zerkleinert als Brücken über die Wettern zu nutzen. Werkschützer und Polizisten versuchen mit neuen Reizgassprüh-Geräten ihre Niederlage zu verhindern.

Doch der menschliche Druck von außen ist zu groß. Bei Einbruch der Dunkelheit steht fest: Ein großer Teil des Bauplatzes am Elbdeich ist besetzt!

Nur eine eiligst aufgebaute Nato-Draht-Barriere zu den NWK-Unterkünften und dem Polizei-Areal quer über das Gelände verhindern die gesamte Besetzung des Platzes. Matratzen und Verpflegung für die zahlreichen Platzbesetzer werden herangeschafft.

Die Kralle des Staates

Doch die Euphorie hält nur kurz an. Obwohl die Polizei unter Vermittlung eines Pastor versichert, den Status quo der Besetzung zu akzeptieren, vermeldet die Tagesschau bereits um 20 Uhr die Räumung des Platzes. Eineinhalb Stunden später beginnt das gemeldete Szenario: Knüppel und Reizsprüh-Einsätze der NWK-Werkschützer ohne Maß. Wasserwerfer räumen die befestigten Straßen, schießen auf dem Platz mit Reizgas-Wasser über die Nato-Draht-Barrieren in die Menge. Weil die Menschen ein derart brutales Vorgehen nicht erwartet hatten, gibt es viele Verletzte. Auf dem Areal des Bauern Ali Reimers muss von Sanitätern und Ärzten improvisiert ein Lazarett eingerichtet werden, um die Reiz- und Tränengas-Verletzten zu versorgen.

Tags darauf demonstrieren erneut 4.000 Menschen vor dem geplanten AKW Brokdorf. Diesmal gegen die Polizeiwillkür. Der Bürgermeister der Nachbargemeinde Wewelsfleth, Eckhard Sachse fordert zum Widerstand auf. Der Brokdorfer Bürgermeister Eckhard Block hatte sich für eine NWK-Spende für ein Dorf-Schwimmbad seinen Widerstand abkaufen lassen.

Allein in Hamburg gründen sich nach den Ereignissen des 30. Oktobers innerhalb weniger Tage mehr als 30 Bürgerinitiativen in den Stadtteilen oder zu Themenschwerpunkten. Zu deren Treffen kommen Dutzende entsetzter Menschen. Hinzu kommt, dass sich nach anfänglichen Zaudern die so genannte „K-Gruppen-Bewegung“ – Kommunistischer Bund (KB), Kommunistischer Bund Westdeutschland (KBW) sowie die KPD/AO und die KPD/ML – in den Metropolen Hamburg und Bremen dem Thema Atomkraft annehmen. Die Organisationen können im Norden auf mehr als 10.000 AktivistInnen zurückgreifen. Die örtliche Bürgerinitiative Unterelbe (BUU) entwickeln sich in der Elbregion zum Dachverband und an der Weser entstehen die Bremer Bürgerinitiativen gegen Atomanlagen (BBA).

Bauplatz zur Wiese

Bereits am 13. November 1976 bläst die Anti-Atom-Bewegung zur erneuten Machtprobe. 45.000 Menschen versammeln sich am Bauplatz. Motto: „Der Bauplatz muss wieder zur Wiese werden.“ Die Besetzung wird erneut versucht. Es gibt eine stundenlange Schlacht, die es in der Intensität noch nicht gegeben hat. Steine und Wurfgeschosse fliegen auf die im AKW-Gelände postierten Polizeieinheiten, diese werfen offenbar in Verzweiflung mit Steinen zurück. Denn die ätzend angereicherten Flüssigkeiten aus den Wasserwerfern sowie die Tränengas-Granaten zeigen keine abschreckende Wirkung auf die Menge auf den Deichen – den ProtestlerInnen gelingt es oft, die Tränengas-Granaten einfach ins tiefer liegende Gelände wieder zurückzuwerfen, wo sie vor den Füssen der Polizeieinheiten explodieren. Einige Wasserwerfer werden auf den befestigten Straßen mit Manpower und Seilen geentert, manövrierunfähig beinahe in die Wettern katapultiert.

Die Polizei-Hubschrauber werden mit Aluminium-Drachen auf Höhe gehalten, die Alu-Flieger legen zudem den Polizeifunkverkehr weitgehend lahm. Doch eine erneute Bauplatzbesetzung misslingt. Der Rauch der Tränengas-Schwaden hängt noch Tage über der Wilster Marsch.

Der neue Trend

Motorradhelme und Gasmarken sind in diesen Tagen auf dem Schwarz-Markt der Renner. Und die kleine gelbe Plakette „Atomkraft – nej tak“ von den dänischen Nachbarn wird eingedeutscht. Der „Atomkraft – nein Danke!“-Button gehört seitdem zum Assesscoire vieler ökologisch aufgeschlossener Menschen – entweder am Revers der Kleidung oder als Autoaufkleber am Heck des PKW.

Es folgt eine weitere Protestwelle der Anti-Atom-Bewegung am 19. Februar 1977. Im Vorwege hat es nach dem brutalen Polizeivorgehen Differenzen über die richtige Strategie gegeben. Der Anti-AKW-Bewegung droht die Spaltung. Jeweils etwa 40.000 Menschen reisen zu den zwei verschiedenen Kundgebungen nach Wilster und in die Kreisstadt Itzehoe. Aber der Massenprotest zeigt auch Wirkung, die Verwaltungsgerichte verhängen einen Baustopp für das AKW Brokdorf.

Nahezu zeitgleich verkündet der niedersächsische CDU-Ministerpräsident Ernst Albrecht provokativ, dass er die Salzstöcke von Gorleben im Wendland zum atomaren Endlager auserkoren habe, nach dem ein Jahr zuvor eine Brandrohdung über dem Atommülllager-Areal den Weg geebnet hatte. Tausende demonstrieren, werden von der Bevölkerung schon frühmorgens mit belegten Brötchen empfangen.

Den Höhepunkt der Militanz – aber auch ihre Grenzen – zeigt die Schlacht um das niedersächsischen AKW Grohnde bei Hannover am 19. März 1977 auf. Zur Spaltung der Anti-Atom-Bewegung ist es zwar nicht gekommen, aber nicht jeder der Aktivisten der ersten Stunde ist vor Ort, als 20.000 Menschen in Grohnde demonstrieren. Viele sind mit passendem Handwerkzeug ausgerüstet: Drahtscheren, Bolzenschneider, Flex-Maschinen, Schweißbrenner. Helme, Gasmasken und Schutzschilde gehören ohnehin zur Standard-Ausrüstung. Die Vertrauensleute der Gruppen koordinieren sich über CB-Funk. Die jeweiligen „Kampftrupps“ rekrutieren sich aus den angereisten Initiativen oder Buskontingenten. „HH“ steht für Hamburg, „HB“ für Bremen und „H“ für Hannover: Die Trupps werden über Ansagen aus dem Megaphon oder den Funkgeräten koordiniert. „H1 bis H 5 „ zu „HB 12 bis HB 14“, „HH 1 bis 8 bleibt in Position“, „HH 9 bis HH 18 konzentriert sich hinten auf die Pipeline ....“

Kein militanter Erfolg

Eine Weile sieht es so aus, als könnte der Bauplatz Grohnde erobert werden. Zumal die Wasserzuleitung zum Terrain von den AKW-Gegnern gekappt werden kann und damit die Wasserwerfer ohne Nachschub da stehen. Aber es zeigt sich, dass es im Kampf gegen die staatliche Macht auch Grenzen gibt, wenn keine Menschenleben gefährdet werden sollen. Nachdem der robuste Bauzaun an einer Stelle geknackt worden ist, zeigt die Staatsmacht ihre Zähne. Dutzende Reiterstaffeln der bundesdeutschen polizeilichen Kavallerien werden ohne Rücksicht auf Verluste ins Feld geschickt, um ein Fiasko für die Atommafia zu verhindern. Es gibt viele Schwerverletzte.

Und der Staat rüstet weiter auf. Notstandsgesetze, Rasterfahndung und die Allzweckwaffe des Paragraphen 129a (Bildung terroristischer Vereinigungen), die im Zuge der Fahndung nach der RAF zuvor geschaffen worden sind, werden auch zunehmend gegen die Anti-Atomkraft Bewegung eingesetzt. Das merken die Teilnehmer des Hamburger Konvois zur Demo gegen den Schnellen Brüter in Kalkar am 24. September 1977. Als sie in eine Polizeisperre im niedersächsischen Sittensen fahren, stehen sie nicht nur Polizisten ausgerüstet mit Knüppel und Wasserwerfern gegenüber, sondern blicken auf dem mit Scheinwerfer erleuchteten abgelegenen Terrain in Maschinenpistolenläufe. Hunderte werden festgenommen, in „grünen Minnas“ in abgelegene Hallen transportiert und erkennungsdienstlich nach den Normen der RAF-Fahndung behandelt. Dutzende von BUU-Bussen müssen auf der Autobahn wenden, kehren mit Tausenden um. Der legendäre Deutsche Herbst hat begonnen. An diesem Tag erscheint übrigens in Kalkar eine Nullnummer einer neuen Tageszeitung – der taz.

Noch mal aufbäumen

Nachdem der Baustopp in Brokdorf aufgehoben worden ist, bäumt sich die Anti-AKW-Bewegung noch mal auf: 100.000 Menschen marschieren bei Minus 10 Grad und eisigem Wind und allen massiven Polizeisperren zum Trotz am 28. Februar 1981 in Richtung Bauplatz. Doch das AKW Brokdorf wird gebaut und geht 1986 trotz der Reaktorkatastrophe am 26. April im ukrainischen Tschernobyl ans Netz. Das kann auch eine Demonstration am 7. Juni 1986 nicht mehr verhindern, in deren Verlauf der Hamburger Konvoi mit 10.000 Menschen von der Polizei außergewöhnlich brutal gestoppt und anschließend zerschlagen wird.

Dennoch hat der 30. Oktober 1976 viele Menschen aus dem Schlaf gerüttelt. Hamburgs SPD-Bürgermeister Hans-Ulrich Klose machte sich wenige Jahre später für einen Kurswechsel der Sozialdemokraten beim Bau des AKW- Brokdorf stark. In vielen Teilen der Bevölkerung – auch bei den Gewerkschaften, die jahrzehntelang die Atomkraft als Zukunftstechnologie gepriesen haben – setzte ein Sinneswandel ein. Sie reihten sich ins Lager der Atomkraftgegner ein.

So sind wohl manche Blessuren aus jenen Tagen nicht vergebens gewesen, auch wenn die atomaren Zeitbomben weiter ticken und die Atomlobby das Rad der Geschichte wieder umdrehen möchte, wenn über längere Laufzeiten der Reaktoren oder über eine Renaissance der Technologie trotz des jüngsten Beinahe-GAU im schwedischen AKW Forsmark-1 am 25. Juli dieses Jahres debattiert wird – und die Atommüll-Transporte nach Gorleben nur mit Polizei-Armeen durchgesetzt werden können.