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Archiv-Artikel

ÜBER DIE SPREE IN DIE HAVEL. ÜBER DIE HAVEL IN DIE ELBE Die Träume der Fünfjährigen

LIEBLING DER MASSEN

Wir gehen am Landwehrkanal spazieren. In Höhe einer Baustelle liegt an der Uferböschung so ein komischer breiter Kahn im Wasser, darauf ein Bagger. „Was ist das denn?“, fragt Q.

Ich bin mir nicht sicher. Zunächst hoffe ich ja, dass das Gerät dazu dient, die ganzen hässlichen Bäume wegzumachen, die einem hier die freie Sicht auf den schönen Kanal versperren. Doch das glaube ich nicht. „Das ist bestimmt so ein Schwimmschlammbagger“, entscheide ich mich. „Oder auch ein Schlammschwimmbagger.“

„Ein Waaas? Ein Schwimmschlammbagger? So was gibt’s doch gar nicht. Das klingt doch wie der feuchte Traum eines Fünfjährigen.“

„Fünfjährige haben keine feuchten Träume“, konstatiere ich korrekt – die Kombination aus Lebenserfahrung und Leistungskurs Biologie kumuliert zu einem Kompetenzprofil, das sich gewaschen hat. „Aber angenommen, das sollte jetzt bloß so ne Metapher sein. Wie kommst du denn drauf?“

„Also“, sagt sie. „Wegen der Kombi: Erstens Schiff. Zweitens Schlamm. Drittens Bagger. Da fehlt eigentlich nur noch, dass da auch noch ein Feuerwehrmann draufsteht. Und ein Polizist. Und ein Cowboy.“

„Ah! Und ein Indianer und ein Tierpfleger und ein Zirkusdirektor“, ergänze ich. Jetzt geht allerdings mir fast einer ab. Am helllichten Tage und im Wachzustand, denn ich habe das System erfasst. Und zwar ziemlich schnell. Ungewöhnlich schnell.

Selbst der coolste Käfer

Ich habe kapiert, was sie meint, und vermochte die logische Kette darüber hinaus sogar noch um eigenständig ersonnene Elemente zu erweitern. Noch besser, hat mir das Ausdenken sogar richtig Spaß gemacht. Manchmal wünschte ich mir, das Leben hielte viel mehr solcher kurzweiligen und zugleich anspruchsvollen Aufgaben für mich bereit. Gewiss würde ich mich weniger langweilen und mein Selbstbewusstsein daran wachsen, was nicht nur gut für mich, sondern auch für meine Umgebung wäre. Weil ich dann bestimmt rundum freundlicher, gelassener und angenehmer wäre. Und nicht immer so entsetzlich niedergeschlagen.

Da ist es dann doch nicht weiter verwunderlich, dass man ruppig und abweisend wirkt, obwohl man doch insgeheim für alle nur das Beste will. Ich bin ja nicht wirklich ein schlechter Mensch. Es ist einfach nur so, dass, wenn man wieder und wieder bloß brutal auf die Fresse kriegt, weil einem jegliche Selbstbestätigung vorenthalten wird, die jeder Mensch nun einmal für die Seele braucht wie Wasser und Nahrung für den Körper, also dass man dann irgendwann nur noch dichtmacht und sich abkapselt. Auch Alkohol.

Das ist doch wohl die verständlichste Sache der Welt. Selbst der freundlichste Hund würde sich verkriechen, wenn er von morgens bis abends nur getreten wird. Selbst die fröhlichste Ente würde es sich mindestens dreimal überlegen, ob, wann und wozu überhaupt sie das nächste Mal das Schilf verlässt, wenn man sie pausenlos beschießt. Selbst der coolste Käfer würde spätestens dann sein Heim im Moos verlassen, wenn ihm zum achten Mal ein Wanderer draufgeschifft hat. Selbst die vergammeltste Apfelsine …

Danke, das reicht

„Ja, danke“, sagt sie. „Es reicht. Vielen Dank. Wir halten jetzt mal wieder ganz fein unser Schnäbelchen.“

Und das ist exakt, was ich meine. Anstatt, dass ich zum Sprechen ermuntert und meine Kreativität aktiv gefördert wird, fährt man mir einfach über den Mund, um mich systematisch zu brechen und am Boden zu halten. Nunmehr schweigend und voller Sehnsucht blicke ich auf den Schlammschwimmbagger. „Einfach damit wegfahren“, denke ich. „Über die Spree in die Havel. Über die Havel in die Elbe. Von der Elbe in die Nordsee. Über die Nordsee in den Atlantik. Die Karibik. Der Panamakanal. Der Pazifik. Weiter dann in die Südsee. Dort auf einer Insel. Ich werde auf bronzefarbenen, weichen Händen ins Dorf getragen. Einen Schwimmschlammbagger haben die noch nie gesehen. Strohhütten. Blumenbikinis. Spanferkel, Ananas, freundliche Menschenfresser.“

„Was haben wir gerade ausgemacht?“ Die Frage klingt spitz. Drohend fast und wohl auch reichlich rhetorisch. Ich muss anscheinend laut gedacht haben.