: Verstrahlte Schönheit und Verletzlichkeit
TOURSTART Die New Yorker Musikerin Marnie Stern deutet die männlich codierte Metalgitarrentechnik Fingertapping zu einem obsessiven Noiserockentwurf um
VON KIRSTEN RIESSELMANN
Diese Frau ist nicht wirklich hip, sie gehört nicht zu einem oberkreativen Künstlernetzwerk, sie hat keine angesagte Frisur, sondern zwei Haarspangen in den blonden Strähnen.
Marnie Stern kommt aus New York, aber nicht aus Szene-Brooklyn. Marnie Stern bewohnt eine Wohnung im 16. Stock eines Brownstoners in der einigermaßen bürgerlichen Upper East Side. Mit wenigen kurzen Unterbrechungen wohnt sie dort schon ihr ganzes Leben lang. Im Schlafzimmer hat die heute 34-Jährige vor Jahren angefangen, sich parallel zu ihrem Job als Sekretärin bei einer Werbeagentur Gitarre beizubringen. Hat geübt. Und geübt. Den Job aufgegeben. Weitergeübt.
So schildert sie ihren typischen Tag: „Ich schlafe lang, weil ich nicht schlafen kann. Dann mit einer Kanne Kaffee an die Gitarre. Eine Zigarette nach der anderen. Stundenlang. Bis ich schlottere. Später ein Bier zum Runterkommen. Ein bisschen Fernsehen. Ein Freund ruft an. Ob ich noch Lust auf Ausgehen habe? I don’t think so.“
Und diese Eremitage und Verausgabung nur, weil sie eine virtuose Spieltechnik als ihre Ausdrucksform entdeckt hat, die in der Progressive-Rock-Szene bis vor Kurzem noch als maximal uncool galt: Fingertapping. Sie wissen schon: Eddie van Halen. „Eruption“. 1978. Das schnelle Drücken der Saiten auf dem Griffbrett des Instrumentenhalses, auch das Hämmern der Saiten über dem Schallloch. Tapping, diese abgewichste Show-Off-Solier-Technik selbstverliebter Power-Balladen-Metaller hat es Marnie Stern angetan.
Und sie ist eine Meisterin darin geworden. Aber nicht nur darin. Im Jahr 2007 veröffentlichte sie ihr erstes Album. „In Advance of the Broken Arm“, ein hypernervöses Derwischgedresche, wurde von der New York Times als „das aufregendste Rock-’n’-Roll-Album des Jahres“ gepriesen. 2008 folgte ein Album mit Wahnsinnstitel: „This Is It and I Am It and Your Are It and So Is That and He Is It and She Is It and It Is It and That Is That“ war genau so, wie es sich las – obsessiv, irre, verhackstückt, verspielt, sich selbstvergessen in wahnwitzig schnelle Tappingloops hineinschraubend, nervenzerfressend.
Und jetzt legt Marnie Stern ihr Drittwerk vor, mit „Marnie Stern“ deutlich nüchterner betitelt, zehn Stücke, 33 Minuten, aber trotzdem eine neue Dimension. Marnie Stern ist versammelter geworden, liedförmiger, ab und an gibt es so etwas wie mitsingbare Refrainstrukturen, sie selbst kreischt nicht mehr nur mit dem „Charme einer aufjaulenden Katze, auf der man versehentlich Platz genommen hat“ (so die Einschätzung im Musikblog „Lie In The Sound“), das Noisige ist ein bisschen einer fast mit dem Weird-Folkigen liebäugelnden Verstrahltheit gewichen.
Klar gibt es da noch Noise und Geschredder, Indie-Rock fast Shellac’schen Gewichts und einen lightning-boltesken-Irrwitz, dazu durchschlagende Erbanteile von Riot Girlism und Math Rock. Aber neu hinzugekommen ist eine sphärische Schönheit, die eher an den Psychedelic Folk von Joanna Newsom und Animal Collective erinnert – und die Marnie Sterns Sound um noch mal eine Umdrehung entdeckungsreicher macht.
Einen nicht unerheblichen Anteil daran hat Schlagzeuger Zack Hill von der Band Hella. Wie schon auf ihren ersten beiden Alben ist er auch hier wieder kongenial damit befasst, ihre zerpflückten Songs noch weiter zu fragmentieren, zu kommentieren, mit einer dichten rhythmischen Substanz aufzufüllen und ihrer durchgedrehten Schnelligkeit grandiose Vielgestalt zuzuführen.
Das Erstaunliche am neuen Marnie Stern-Album ist, wie hier Fingertechnik, formale Stückstruktur und textliche Aussage zusammenfinden. Denn das Technische ist bei ihr nicht dazu da, ihre Virtuosität auszustellen und als L’art pour l’art selbstgenügsam dastehen zu lassen. Auch scheint sie mit all ihren Tappings, Hammerings und Pickings nicht aus feministischem Antrieb heraus eine chauvimäßige Banane-in-der-Hose-Haltung humoristisch überformen zu wollen.
Nein, Marnie Sterns Gitarrenspiel scheint die einzig mögliche Konsequenz ihres Aussagewillens. Nur in dieser Form kann sie sagen, was sie sagen möchte. Und schenkt so einer überholten Kulturtechnik einen neuen Sinn. Da singt sie im vorwärtspreschenden, fast jubilatorisch hysterischen Eröffnungsstück „For Ash“ beispielsweise für einen Exfreund, der sich umgebracht hat.
Immer wieder sind triolische Tapping-Teppiche panische Aufschreie des Verlassenseins („Cinco de Mayo“), immer wieder geht es ums nervöse Reflektieren des eigenen Nichtgenügens („Transparency Is The New Mystery“). Und sogar so breitbrüstig betitelte Stücke wie „Female Guitar Players Are The New Black“ bieten alle technische Versiertheit auf, um fast schamanisch oszillierend die Macht einer unglücklichen Liebe zu brechen. Und so zieht es sich durch das gesamte Album: Die Texte machen sich nackt, sie sind durchtränkt von Selbstbefragung, Bekenntnishaftigkeit und Verletzlichkeit.
Bei Marnie Stern entsteht aus der Aneignung einer männlichen Posertechnik etwas sehr Kostbares: eine hochenergetische, reiche, vielschichtige und extrem intime Musik.
■ Marnie Stern: „Marnie Stern“ (Souterrain Transmissions/Rough Trade); live: 1. 12. München, 6. 12. Hamburg, 7. 12. Berlin