BETTINA GAUS über FERNSEHEN
: Die Publikumsverachter

Es laufen viele wirklich glänzende Dokumentationen – leider nur selten im deutschen Fernsehen

Der 15-jährige Junge auf der Anklagebank weint. Reglos. Kein Muskel zuckt in seinem Gesicht. Das Einzige, was sich bewegt, sind die Tränen. Sie laufen die Wangen entlang. Im Zeugenstand beharrt seine Mutter darauf, er sei an jenem Morgen zu Hause gewesen, an dem er laut Anklage den Mord begangen haben soll. Auch sie weint. Leise und verzweifelt.

Im Zuschauerraum sitzt der Witwer des Opfers. Vor seinen Augen war seine Frau im Innenhof eines Motels von einem Handtaschenräuber erschossen worden. Seine Augen sind leer, seine Miene ist starr. Hat er keine Kraft mehr, um Gefühle zu empfinden? Oder hat er sich fest vorgenommen, um jeden Preis die Fassung zu bewahren?

Alle Prozessbeteiligten haben Hauptrollen in diesem Stück. Die Zuschauer spüren: Kein Leben der Beteiligten wird danach so sein, wie es vorher war. Sie ergreifen Partei: für das Kind, das ein Geständnis unterschrieben hat und dem nun lebenslange Haft droht. Der 15-Jährige entgeht diesem Schicksal knapp. Er verdankt das seinem Pflichtverteidiger.

Von kaltem Zorn erfüllt weist der Anwalt nach, dass die Polizei schlampig – ach, was heißt schlampig: überhaupt nicht! – ermittelt hat, dass der Junge beim Verhör geschlagen und bedroht wurde. Und dass er einfach großes Pech gehabt hat. Die Beamten brauchten schnell einen Täter, nachdem in Florida eine weiße Touristin von einem schwarzen Räuber ermordet worden war. Der 15-Jährige war der erste Schwarze, den sie auf der Straße sahen, nachdem die Fahndung angelaufen war. Der könnte es doch gewesen sein, sagte einer der Polizisten zu seinem Kollegen. So fing es an.

Dem Pflichtverteidiger gelingt es, die Geschworenen von der Unschuld seines Mandanten zu überzeugen. Einige Monate nach dem Freispruch wird der wahre Täter gefasst.

Furchtbar originell ist der Plot nicht. Gerichtsfilme kennt man – einige sehr gute aus den USA und viele entsetzlich schlechte Shows im Nachmittagsprogramm großer deutscher Privatsender. Aber „Mörder nach Maß“ ist dennoch etwas ganz Besonderes. Es ist nämlich kein Spielfilm, sondern eine Dokumentation. Keine einzige Szene ist nachgestellt. Der Regisseur Jean-Xavier de Lestrade hat das wahre Leben abgefilmt – und als er damit anfing, kannte er den Ausgang des Dramas so wenig wie der angeklagte Junge.

Wenn jemandem eine wirklich glänzende Dokumentation gelingt, dann bleibt das nicht unbemerkt. 2002 wurde „Mörder nach Maß“ mit dem Oscar für den besten Dokumentarfilm ausgezeichnet, im selben Jahr erhielt er den Prix Italia. Wirklich glänzende Dokumentationen werden auch den deutschen Fernsehzuschauern nicht vorenthalten. Arte hat den Film in der Nacht von Sonntag auf Montag gezeigt. Von 23.20 bis 1.00 Uhr. Zur besten Sendezeit also.

Was geht eigentlich in Programmplanern vor? Was geht in Programmplanern eigentlich vor?? Aber vielleicht sollte man Vorwürfe nicht ausgerechnet und schon gar nicht an erster Stelle an die Adresse von Arte richten. Immerhin haben sie die Dokumentation wenigstens gezeigt.

Das ZDF hat am Sonntagabend um 20.15 Uhr „Melodien für Millionen“ gespielt, die ARD einen „Tatort“ gesendet. Man muss das verstehen: Die öffentlich-rechtlichen Anstalten kämpfen schließlich darum, im Wettbewerb mit den Privaten konkurrenzfähig zu bleiben. Zum Beispiel mit RTL II. Dort lief am Sonntagabend der Spielfilm „Das Leben des David Gale“. Ein verwirrender, ganz und gar unwahrscheinlicher und über weite Strecken sehr, sehr langweiliger Spielfilm, dessen Botschaft allerdings unmissverständlich war: Die Todesstrafe muss abgeschafft werden. Wegen der Gefahr von Fehlurteilen.

Es ist ja bekannt, dass mit komplexen politischen Themen die Massen nur mit Unterhaltung zu erreichen sind. Nicht mit Dokumentationen. Dabei liebt man die bei RTL II. Aber nur für leichte Themen – Wohnungseinrichtung und so. In ihrer Verachtung des Publikums lassen sich Programmverantwortliche offenbar nur schwer übertreffen.

Fotohinweis: BETTINA GAUS FERNSEHEN Fragen an die Planer? kolumne@taz.de Morgen: Martin Reichert LANDMÄNNER