: Das Ende von Gut und Böse
DEBATTE Der Sozialpsychologe Harald Welzer diskutierte mit Schülern über das Wesen von Tätern und Rettern – am Beispiel seiner Forschung zur NS-Zeit
Im Juli 1942 erschießen Hamburger Polizisten rund 1.500 Juden in dem polnischen Dorf Józefów. Jung und Alt, Frauen und Kinder fallen ihnen zum Opfer. Bei den Tätern handelt es sich um psychisch unauffällige Hafenarbeiter, Angestellte, Beamte, Familienväter. Als Angehörige des Reserve-Polizeibataillons 101 ermorden diese „ganz normalen Männer“ im Verlauf des 2. Weltkriegs mindestens 38.000 Juden.
Was haben die Prototypen des NS-Verbrechers aber zu tun mit einer Straftat, die rund sieben Jahrzehnte später begangen wird? Mit dem Tod von Dominik Brunner, der aufgrund einer Schlägerei mit zwei Jugendlichen im September 2009 auf dem Münchener S-Bahnhof Solln an Herzversagen stirbt?
„Keine Mörder per se“
Diesen kurios anmutenden Zusammenhang stellte das Hamburger Körber-Forum diese Woche in den Mittelpunkt seiner letzten Podiumsdiskussion 2010: „Der Fall Dominik Brunner“, hieß es im Veranstaltungsflyer, „hat deutschlandweit Diskussionen ausgelöst: Wer schaut zu, wer greift ein? Kann ein Opfer gleichzeitig Täter sein?“
Die Antworten generierte eine raffinierte Podiumsdramaturgie: Schüler und Studenten fragen den Sozialpsychologen Harald Welzer, eine international anerkannte Koryphäe auf dem Gebiet der NS-Täterforschung, was für einen gesellschaftlichen Nutzen die Kenntnisse von den Tätern eigentlich haben.
Zum Beispiel wie wichtig Zivilcourage ist. In der NS-Zeit ist sie rar gewesen. Und auch in einer Gegenwart mit U-Bahn-Schlägern bleibt sie eher die Ausnahme. „Es muss doch Wesenszüge geben“, sagt eine Schülerin auf der Bühne, „die es erleichtern, sich gegen herrschende Autoritäten aufzulehnen!“
Auch die Männer des Polizeibataillons 101 seien „keine Mörder per se“ gewesen, erwidert Welzer. Vielmehr würde die heterogene soziale Zusammensetzung der Einheit belegen, dass „die Annahme einer identifizierbaren Gruppe von Tätern schlicht nicht haltbar“ sei. Identifizieren könne man lediglich „Rahmenbedingungen, die Täter hervorbringen können“. Für die Retter gelte demnach das gleiche.
„Kalte Geschichte“
Welzer stellt fest, dass die Phase einer „heißen Geschichte“ zu Ende sei, die eine stark emotionalisierte Auseinandersetzung der Deutschen mit der NS-Zeit ausgezeichnet habe. Mit der vierten Nachkriegsgeneration hingegen habe die „kalte Geschichte“ begonnen, so Welzer. Künftige Historiker, vier von ihnen gerade mit ihm auf dem Podium, würden einen neuen Raum für Antworten öffnen.
Grund für die Zurückhaltung sei eine „neue Ambivalenzfähigkeit, die auch Grauzonen akzeptiert“, sagt Welzer. Das geschichtliche Denken werde im weniger durch „binäres Denken“, einer Gut-Böse-Einteilung, bestimmt.
MART-JAN KNOCHE