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Archiv-Artikel

„Forschung nicht en vogue“

VORTRAG Christine Kirchhoff über die Bedeutung der Psychoanalyse für Gesellschaftskritik

taz: Frau Kirchhoff, was ist Lückenphobie?

Christine Kirchhoff: Lückenphobie ist die Angst vor dem Scheitern des vereinheitlichenden Denkens. In der Wissenschaft findet sie sich zum Beispiel im Positivismus, der auf Grundlage experimentell erhobener Daten die Welt in Gänze erklären will, es aber nicht kann. Oder in Verschwörungstheorien, wenn Menschen alles Undurchschaubare als Teil einer großen Verschwörung gegen sich oder ihre Gemeinschaft begreifen. Kritik daran leistet die Psychoanalyse.

Wie das?

In meinem Vortrag geht es darum, mit den „alten Frankfurtern“ zu erklären, warum Menschen unvernünftig handeln und etwas dagegenzusetzen – also zu versuchen, Phänomene wie zum Beispiel Antisemitismus zu verstehen. Nicht nur gesamtgesellschaftlich, sondern auch individuell. Dass derartige Forschung derzeit nicht en vogue ist, zeigt sich auch an der Abwicklung des Studiengangs Psychologie an der Uni Bremen, die schon vor circa zehn Jahren mit dem psychoanalytischen Studienschwerpunkt begann – eines einzigartigen Studienangebots.

Wie viel Marx, Freud und Adorno muss man gelesen haben, um folgen zu können?

Das wird eine Einführungsveranstaltung, aber keine umfassende. Ich müsste sonst einen Vortrag über Psychoanalyse und einen zweiten zur Kritischen Theorie halten. Stattdessen springe ich mitten ins Thema und gebe einen Eindruck, worum es da geht.

Zum Beispiel um Kritik an Psychologisierung der Gesellschaft durch Neurowissenschaften?

Das kann auch in der Psychoanalyse passieren. In den 70ern sind zum Beispiel Versuche unternommen worden, die Kategorie Geld logisch und historisch aus dem Analcharakter herzuleiten. Sowas ist auch hier falsch. Problematisch an den Neurowissenschaften ist eher die Biologisierung der Gesellschaft. Sie überschreiten ihren Geltungsanspruch, wenn sie von der Schnecke auf den Menschen schließen. Gesellschaft funktioniert anders.  INTERVIEW: JAN-PAUL KOOPMANN

20 Uhr, Galerie K‘, Alexanderstr. 9 b

■ Christine Kirchhoff 39, ist Juniorprofessorin für Psychologie mit Schwerpunkt psychoanalytischeKulturwissenschaft an der IPU.