Der Labile geht

TENNIS Nach einer wechselvollen Karriere hört Nicolas Kiefer, 33, auf. Der Hannoveraner, der als Junior so verheißungsvoll gestartet war, verbrannte sich im Stahlbad der Profiszene

„Ich weiß, dass ich viele Chancen liegen gelassen habe“

Nicolas Kiefer

VON JÖRG ALLMEROTH

An einem sonnigen Frühlingstag im April saß Nicolas Kiefer auf der Trainerbank der Hannoveraner Fußballarena und sprach über sein Comeback. Eine halbe Stunde plauderte er an seinem „heimlichen Lieblingsort“ vor den Kameras des Internetsenders tennislive.tv und sprach scheinbar angeregt über seine Pläne und seine Perspektiven. Das Gespräch war schon fast beendet, als Kiefer einen Blick in das Stadion warf und energisch verkündete: „Die Ziele gehen mir nicht aus. Ich will unbedingt noch einmal bei den Olympischen Spielen 2012 in London antreten.“

Man hätte es schon vor einem Dreivierteljahr ahnen können, dass es nichts mehr werden würde mit einer neuen Rückkehr in den Wanderzirkus. Nun, auf den letzten Drücker in diesem Jahr, zieht Kiefer die Konsequenz: Der Mann, der nur noch auf Weltranglistenplatz 722 geführt wurde, tritt zurück. „Es reicht“, sagt er. Statt wieder die Koffer zu packen und sich auf wenig aussichtsreiche Reisen zu begeben, will der Hannoveraner lieber die Zeit seiner Tochter widmen: „Ich will zusehen, wie sie aufwächst. Ich will nichts verpassen.“

Kiefers bessere Tage im Tourbetrieb liegen weit zurück: Der mittlerweile 33-Jährige gewann sein letztes Turnier im Oktober 2000 in Hongkong. In seinen späteren Tennisjahren kämpfte Kiefer genau wie sein Landsmann Thomas Haas mit immer neuen Verletzungen, es folgte Comeback auf Comeback – und dann wieder ein Rückschlag. Selbst nach einer komplizierten Handgelenksblessur kämpfte sich der Niedersachse 2008 noch einmal zurück. Doch für einen Coup konnte es nicht mehr reichen. „Ich weiß, dass ich viele Chancen liegen gelassen habe. Aber ich bin doch zufrieden mit dem, was ich erreicht habe“, sagt Nicolas Kiefer.

Kiefer hatte das Talent, um sich als Erbe von Boris Becker auf höchstem Niveau zu etablieren. Doch psychisch war der in Holzminden aufgewachsene Profi zu labil. Kiefer war oft ein Mysterium – für sich selbst, für seine Gegner, für die Öffentlichkeit. An guten Tagen bezwang er auch die Weltbesten mit einer so lässigen Selbstverständlichkeit, dass man glaubte, ein Grand-Slam-Erfolg sei bald die logische Konsequenz. Doch am nächsten Tag packte einen das Entsetzen, wenn Kiefer einem harmlosen Gegner den Sieg schenkte. Kam Kiefer dann zu Pressegesprächen, schaute er gar nicht in die Runde, fixierte grimmig den Fußboden, wirkte abweisend bis zur Unhöflichkeit. Er ärgerte sich freilich nicht über die mehr oder weniger intelligenten Fragen, sondern über sich selbst.

Auch wenn es nicht so aussah, auch wenn Kiefer es nicht zugeben mochte: Für die Brutalität dieses Tenniszirkus, in dem es kaum wirkliche Freundschaften gibt und jeder des anderen Gegner ist, war er nicht geschaffen. Innerlich schon früh verwundet, blieb er auch im Davis Cup unter seinen Möglichkeiten – in einem Wettbewerb, den er und sein Mitstreiter Haas eigentlich perfekt zur Bühne für die eigene Profilierung hätten nutzen können. Statt großer Triumphe blieben leider nur Eifersüchteleien, Eitelkeiten und Egoismen in Erinnerung, und als es dann endlich ein rückhaltloses Bekenntnis zur Nationalmannschaft gab, war es zu spät für einen großen Erfolg. Immerhin verbündete sich Kiefer 2004 mit Rainer Schüttler zu einem starken Doppel. Bei den Olympischen Spielen 2004 in Athen vergaben die beiden Partner vier Matchbälle zum Gold, bevor sie sich dann auch mit Silber zufrieden zeigten. „Die Medaille bewahre ich mir wie einen Goldschatz auf. Ich schaue sie immer mal wieder an“, sagt Nicolas Kiefer.

Sechs Turniersiege, die Olympiamedaille, ein Grand Slam-Halbfinale – als er 1995 zu den weltbesten Junioren zählte und die Nachwuchs-Grand-Slams in Melbourne und New York gewann, hatte Kiefer sich seine Tennislaufbahn sicher anders erträumt. Mit jugendlichem Schwung und unter der Regie des Boris-Becker-Teams startete er auch durchaus vielversprechend ins Erwachsenentennis, preschte 1997 ins Viertelfinale von Wimbledon vor. Die Times sah da schon die „Geburt des nächsten deutschen Superstars“. Er war da die Nummer 6 der Weltrangliste.

Ohne große Überzeugung tingelte Kiefer elf Jahre später, nach einer langen, auszehrenden Ochsentour und den ewigen Wechselfällen des Tennislebens, noch einmal ein wenig umher, spielte bei Challenger-Turnieren, nahm hier und da eine Wild Card an. So trat er auch in Halle, bei seinem Heimturnier auf der Tour, und in Wimbledon an. Dort, im All England Club, bestritt er sein letztes, unspektakuläres Match gegen den Spanier David Ferrer. Nicolas Kiefer verlor in drei Sätzen.