: Ein Ghettotor aus Pappmaché
GESCHICHTE Als ob man durch einen Film läuft: Eine Ausstellung des Städtischen Museums Krakau in Schindlers Fabrik führt zurück in die polnische Stadt unter der Nazibesetzung 1939–1945
VON SABINE VOGEL
Leicht zu finden ist sie nicht, die ehemalige Deutsche Emailwarenfabrik (D.E.F.) in Krakau. Drei Stationen mit der Straßenbahn aus der Altstadt, über die Weichsel und dann zu Fuß durch eine kleine Vorstadtstraße. Verfallene Fabrikgebäude, neue Fabrikgebäude und dann ein glatt verputztes, frisch gestrichenes Verwaltungsgebäude. Alle, die den Film „Schindlers Liste“ gesehen haben, erkennen es wieder. Und die sind hier auch in der Mehrheit: Seit der Film von Stephen Spielberg 1993 in die Kinos kam, interessieren sich Touristen für den Originalschauplatz, an dem bis 2002 noch die polnische Firma Telpod Telefonbauteile produzierte.
2005 ging das Grundstück in den Besitz der Stadt Krakau über, und nach intensiven Diskussionen wurde 2007 die Entscheidung gefällt, im ehemaligen Verwaltungsgebäude der D.E.F. eine Dauerausstellung über die Stadt Krakau und ihre Bewohner, jüdische und nichtjüdische, während der Zeit der NS-Besatzung von 1939 bis 1945 zu zeigen. Seit Juni 2010 ist die Ausstellung geöffnet: Etwa 100.000 Besucher, davon 60.000 aus dem Ausland, haben sie im ersten Halbjahr gesehen.
„Der 6. August 1939 war in Krakau ein schöner Sommersonntag.“ Mit diesen Worten und vielen gerahmten Familienfotos von Krakauerinnen und Krakauern aus den 30er Jahren nimmt die Ausstellung in einem angedeuteten Fotostudio ihren Anfang. Wie im Vorspann eines Films werden Ort und Personen eingeführt: die Bewohner von Krakau, ihre Stadt, ihr Fluss, ihr Lebensgefühl in einer lebendigen Universitätsstadt mit langer jüdisch-polnischer Tradition. Grammofonmusik klingt aus einem Lautsprecher. Auch der Erzählmodus der Ausstellung wird hier vorgestellt: Angedeutete Rauminszenierungen, viele Originalobjekte, oft lebensgroße Fotos und eine durchlaufende „Tonspur“ sind die Gestaltungsmittel, mit denen das Ausstellungsteam um Monika Bednarek das Publikum durch die sechsjährige Besatzungszeit führt.
Kein Weg zurück
Die Besucher lassen sich wie Voyeure durch die historische Stadt treiben, werden einbezogen in den Alltag der Bewohner Krakaus. Sie begleiten die jüdischen Krakauer auf dem Weg von ihren Wohnungen ins Ghetto und vom Ghetto in das Lager Plaszow, wo über 10.000 Juden bestialisch ermordet wurden. Bei Kriegsende ist die jüdische Gemeinde Krakaus ausgelöscht. Die Besucher begleiten die überlebenden Polen und ein Stück weit auch die Besatzer und ihre Familien durch die fünfeinhalb Jahre bis zur Übernahme der Stadt durch die Rote Armee am 18. Januar 1945. Es gibt nur einen Weg durch das dreistöckige Ausstellungsgebäude. Wie im Film, oder wie im Leben, gibt es keinen Weg zurück.
Als deutschsprachiger Besucher braucht man über weite Strecken keine erklärenden Ausstellungstexte. Reproduktionen von Bekanntmachungen des Stadtkommissars Zörner auf Deutsch und Polnisch, plakatiert auf Hauswänden, machen im O-Ton deutlich, wie die Besatzungsmacht das Leben der nichtjüdischen und der jüdischen Bevölkerung in immer engere Handlungsräume zwang. Fotos von gehenkten Menschen, viele unterschiedliche Fotos mit jeweils mehreren Getöteten, führen das Ausmaß der Brutalität ohne weitere Erklärungen vor Augen. Postkarten von Zwangsarbeitern sind auch in deutschen Ausstellungen zum Thema schon gezeigt worden. Wie anders wirken sie, wenn man als Ausstellungsbesucher – zum Krakauer geworden – in der Situation des Empfängers ist, der die Postkarte in einem Hausbriefkasten sieht.
Anrührend ist auch das Kapitel über das Leben im Ghetto: Ein enger Wohnraum ist angedeutet, in dem viel zu viele Schränke und Betten so gestellt sind, dass eine sechsköpfige Familie darin wohnen kann. Nur an dieser Stelle haben die Krakauer Ausstellungsmacher die Bewohner der Räume dreidimensional nachgestellt. Die abgegipsten Personen müssen Schauspieler gewesen sein, deren Präsenz die Aussichtslosigkeit der Situation auch noch unter einer Schicht von Gips zum Ausdruck bringt. Überzeugend auch die Inszenierung einer Fahrt mit der Straßenbahn, deren Fenster als Monitore gestaltet sind. Im Vorbeifahren sieht man Filmaufnahmen von Stadtansichten und Passanten, die sich abwechseln mit Aufnahmen von Plünderungen und Misshandlungen polnischer Bürger durch die Besatzungsmacht. Und dennoch ging in Krakau das Leben weiter. Lebensgroße Fotos von eleganten Krakauerinnen, die 1943 durch das unzerstörte Krakau flanieren, Schaufenstervitrinen mit zahlreichen originalen Kinderspielsachen stehen in scharfem Gegensatz zur unmittelbar anschließenden Präsentation der Liquidierung des Krakauer Ghettos.
Ergänzt wird die Ausstellung durch Medienstationen mit weiterführenden Informationen und durch Interviews mit wenigen Zeitzeugen. Umgeben von dem dargestellten Morden wirken sie wie ein Lebenszeichen. An fünf „Zeitstempeln“ können die Besucher mit einem Behördenstempel eine Pappkarte bedrucken, die mit kurzen Informationen über entscheidende Daten der Krakauer Geschichte aus der Besatzungszeit versehen sind. So kann man sich am 1. September 1940 zur Feier des einjährigen Kriegsbeginns ein Kärtchen mit einem runden Siegel des Generalgouvernements, original mit Reichsadler und Hakenkreuz, bestempeln. Oder am 20. März 1940 eines mit dem Stempel des Judenrates anlässlich der Einrichtung des Ghettos in Podgorze. Dass ein Stempel über Leben und Tod entscheiden konnte, wird hier deutlich.
In Schindlers Büro
Das Wirken Oskar Schindlers wird in dessen originalen Büroräumen gewürdigt, die die Jahrzehnte intakt überdauert haben. Deutlich wird, dass die Arbeit der jüdischen Zwangsarbeiter in der D.E.F. schwer war, die Arbeitsbedingungen gefährlich. Erst angesichts der im Generalgouvernement mit aller Konsequenz vorangetriebenen „Endlösung der Judenfrage“ entschloss sich der Unternehmer, seine Angestellten vor dem Zugriff der Nazis zu retten. Diese beiden Räume unterscheiden sich in ihrem gestalterischen Duktus vom Rest der Ausstellung. Sie sind offenbar Relikte der dokumentarischen Fotoausstellung über den Zustand der Fabrik zu Schindlers Lebzeiten, die zuvor in den Räumen der D.E.F. gezeigt wurde. Doch wirkt die Präsentation sehr schlüssig, zumal viele Besucher vor allem wegen des Protagonisten von Stephen Spielbergs Film kommen. Deutlich ist der Gegensatz zur Schwerpunktsetzung der neuen Dauerausstellung, in der es nicht um herausragende Einzelpersonen oder besondere Bevölkerungsgruppen geht, sondern um das tägliche Leben aller Bewohner Krakaus unter der deutschen Besatzung, der jüdischen und der nichtjüdischen Polen.
Trotz der durchgehenden Inszenierung der Räume wird der Besucher nicht überwältigt von Bildern und Emotionen. Teils mag dies durch die erkennbare Künstlichkeit der Räume kommen. So hat die Inszenierung des Hauptmarktes, der anlässlich des 1. Jahrestages des Kriegsbeginns in feierlichem Rahmen in „Adolf-Hitler-Platz“ umbenannt wurde, statt eines imitierten Straßenbelages einen dekorativen schwarz-weißen PVC-Bodenbelag mit Hakenkreuzmuster. Und eindeutig ist das Tor zum neuen jüdischen Ghetto, in das ab dem 20. März 1941 alle in der Stadt verbliebenen 15.000 Krakauer Juden ziehen mussten, aus Pappmaché.
Die kurzen Ausstellungstexte sind durchgehend polnisch und englisch. Als Deutschmuttersprachler kann man die Verlautbarungen der NS-Kommandanten unmittelbar verstehen. In den Kapiteln über den Alltag während des Krieges und die polnischen Widerstandsbewegungen ist man auf die englischen Texte angewiesen. Eine der Schlüsselsituationen über den polnischen Untergrundstaat am Ende des Rundgangs ist als Gespräch unter den polnischen Kunden eines Frisiersalons aufbereitet ist. Wer nicht Polnisch kann, bleibt außen vor.
Schlussbild mit Stalin
In allen Sprachen verständlich ist hingegen das Schlussbild der Ausstellung: Der Besucher läuft in einem recht engen Gang auf ein sehr großes Porträt von Stalin zu. „Am 18. Januar 1945 endete die deutsche Besatzung Krakaus mit dem Einmarsch der Roten Armee. Für Polen begann erneut eine schwierige Zeit“, lautet sinngemäß der erläuternde Text.
Damit ist die Ausstellung noch nicht ganz zu Ende. Ob man die Schlussinszenierung mit dem hell erleuchteten „Saal der Wahl“ aus Pappmaché als besonders gelungen bezeichnen kann, mag offenbleiben. Dass es jedoch einen „Abspann“ gibt, hilft den Besuchern, wie am Ende eines Films wieder in die Gegenwart zurückzufinden.
■ The Historical Museum of the City of Kraków. Schindler’s Factory, ul. Lipowa 4, 30-702 Kraków. Infos unter www.mhk.pl