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Archiv-Artikel

Piss off

BEDÜRFNISLAGE Urinieren in der Öffentlichkeit ist verboten – eigentlich. Doch bei den Großveranstaltungen im Sommer wird Berlin nicht nur zur Partymeile, sondern auch zu einer riesigen Freilandtoilette: eine Belastungsprobe für Anwohner und Stadtnatur

VON PLUTONIA PLARRE

Feierabend. Mit dem Rücken zum Bürgersteig stehen mehrere Polizisten am Waterloo-Ufer und pissen kollektiv ins Gebüsch. Es ist der 1. Mai 2014, die Demo der Linksradikalen ist gerade zu Ende. In kleinen Grüppchen ziehen diese nun an den Polizisten vorbei zum Straßenfest nach Kreuzberg. Johlend und mit anzüglichen Sprüchen quittieren einige die Pinkelszene. Die Uniformierten stört das wenig. „Habta noch nie ’n Schwanz jesehen?“, kontert einer der Beamten, während er sich lässig die Hose zufingert.

Pinkeln in der Öffentlichkeit ist eine Ordnungswidrigkeit. Bei Verstoß droht ein Bußgeld von 20 Euro. Aber alle tun es – selbst die Polizei. Männer allerdings deutlich häufiger als Frauen. Vor allem bei Großverstaltungen. An diesem Wochenende etwa, beim Karneval der Kulturen in Kreuzberg. Beim Public Viewing auf der WM-Fanmeile im Tiergarten, die demnächst eröffnet. Oder am 21. Juni, wenn der Christopher Street Day vor der Siegessäule gefeiert wird.

Hundertausende werden sich bei diesen Veranstaltungen die Kante geben. Toiletten? Mangelware. Und so werden die gigantischen Freiland-Partys so enden, wie sie immer enden: In einer gelben Flutwelle, die sich vor allem in den Tiergarten ergießt.

Für die Anwohner und den Tiergarten ist das kein Spaß. Das Problem ließe sich wahrscheinlich minimieren, wenn die Veranstalter mehr Klohäuschen aufstellen würden. Sie tun es nicht – auch aus Profitinteresse.

Es stinkt am Blücherplatz

Der 65-jährige Schlosser Horst E. wohnt im Viertel an der Kreuzberger Obentrautstraße, nicht weit vom Blücherplatz. Dort tobt jedes Jahr zu Pfingsten das Straßenfest des Kulturen-Karnevals. Für Horst E. und die übrige Anwohnerschaft bedeutet das: Der Kiez verwandelt sich vier Tage lang in eine Müllhalde. „Plastikbecher, Scherben, Schnapsleichen“, beschreibt E. das Szenario. Das Schlimmste aber sei der Geruch. „Überall stinkt es penetrant nach Pisse.“

Wenn die Leute nur an die Bäume pinkeln würden, wäre ihm das egal. „Aber in die Hauseingänge?“ Angewidert verzieht E. das Gesicht. Das Mietshaus, in dem er wohnt, ist wegen der dunklen Nische im Eingangsbereich ein besonders häufig frequentiertes Örtchen. Weil der Urin nicht auf dem Steinboden versickern kann, rinnt er unter der Tür durch in den Hausflur. „Irgendwann“, klagt E., „ist die Pfütze so groß, dass du nicht mehr trockenen Fußes durchkommst.“

2013 hat die Mietergemeinschaft zum Gegenschlag ausgeholt und in der Nische einen Bewegungsmelder installiert. Sobald jemand den Eingangsbereich betritt, geht ein Lichtstrahler an. Die abschreckende Wirkung war leider nicht so groß, wie E. es sich erhofft hatte. Immerhin: Der Urinpegel im Hausflur sei 2013 erstmals nicht mehr gestiegen. Andere Hausverwalter in der Nachbarschaft rüsteten nun auch auf, sagt E. Das Pfingstwochenende indes dürfte der nächste Härtetest für die Anwohner werden: Es wird heiß – die Leute haben Durst.

Im vergangenen Jahr zählte der Karneval der Kulturen 530.000 Besucher alleine auf dem Straßenfest am Blücherplatz. In diesem Jahr wird mit einer ähnlichen Zahl gerechnet. Ganze 194 Toiletten wird es für die Feiernden auf dem Areal geben.

„Mehr könnten wir aus Platzgründen nicht aufstellen“, bedauert Vassiliki Gortsas, die Leiterin des Karnevalsbüros. Die Besucher müssten „leider, leider“ ein bisschen Schlange stehen oder die Sanitäranlagen der umliegenden Lokale benutzen. Die Mehrzahl tue auch genau das: „Es ist nicht so, dass wir riesig viele Beschwerden von Anwohnern bekommen“, wiegelt Gortsas ab.

Jürgen Götte ist im Grünflächenamt Mitte als Fachbereichsleiter für die Aufsicht und Pflege des Tiergartens zuständig. Die Fußballweltmeisterschaft 2006, als die Straße des 17. Juni zum ersten Mal mehrere Wochen lang für Public Viewing gesperrt wurde, ist ihm noch gut in Erinnerung. Mehr als 400.000 Liter Bier wurden damals pro Spiel konsumiert. Das ergab 200.000 Liter Urin – so die damalige Schätzung des Grünflächenamts – die sich täglich in den Tiergarten ergossen.

„40 Prozent der Fans gehen in die Büsche“, weiß Götte, der inzwischen vier Fanmeilen erlebt hat und sich stets selbst ein Bild vor Ort macht. Nun steht die WM in Brasilien an: am 16. Juni, mit dem Vorrundenspiel Deutschland – Portugal, öffnet die Partymeile durch den Tiergarten.

Wildpinkler sind in der Mehrzahl Männer – wohl vor allem, weil Frauen wohl oder übel blankziehen müssen: Hose runter, hinhocken. Da ist die Hemmschwelle höher, wenn kein geeignetes Gebüsch in der Nähe ist. Bei Open-Air-Festivals wie dem bald wieder in Mecklenburg-Vorpommern stattfindenden Fusion-Festival sind zunehmend sogenannte Urinellas oder Pibellas in Umlauf: Trichter aus Pappe oder Plastik. Mit ein bisschen Übung können Frauen damit im Stehen pinkeln.

Aber es geht auch ohne Hilfsmittel (s. Infokasten). Bei Sportveranstaltungen wie dem Berlin Marathon – noch so eine Riesenveranstaltung – gehen Frauen wie Männer vor dem Start noch mal schnell in die Büsche. Er habe das auch schon getan, gesteht Götte: „Beim Sport sind alle gleich.“

Was den Mann vom Grünflächenamt immer interessiert hat: „Warum sucht man immer einen Baumstamm oder Ähnliches?“ Vielleicht ein Urinstinkt, wie die Tiere, die ihre Duftmarken setzen, überlegt Götte.

Es gebe da, was den Menschen betrifft, keinen tieferen Sinn, sagt hingegen der Biologe und Zoodirektor a. D. Jürgen Lange. „Öffentliches Urinieren ist so wie mit offener Hose rumlaufen: beides tut man im Normalfall nicht.“

Aus Sicht von Anja Marx gibt es keinen zwingenden Grund dafür, dass sich so viele Menschen beim Public Viewing im Tiergarten erleichtern. Und schon gar nicht liege es daran, dass es an Toiletten mangele, sagt die Pressesprecherin des Hyundai Fanparks, eines Autoherstellers, der seit 2008 die Fanmeilen sponsert. „Es sind irre viele Toiletten vor Ort, absolut ausreichend.“

Auch in diesem Jahr würden es um die 1.000 mobile Klohäuschen sein, sagt Marx. Das heißt: Wenn bei den Deutschland-Spielen nur 200.000 Fans zum Public Viewing kommen, wären das schon 200 Menschen pro Toilette.

Zu wenig, findet Götte. Es gebe wissenschaftliche Gutachten zu der Frage, wie viele Toiletten es bei Veranstaltungen dieser Größenordnung brauche: „Das Verhältnis wäre 50:1.“

Marx hat hingegen ihre eigene These, warum so viele Besucher in die Büsche gehen. Es liege weder an zu langen Wartezeiten noch etwa daran, die 50 Cent pro Toilettengang sparen zu wollen. „Das ist eher Faulheit und schlechtes Benehmen, das wird man nirgendwo auf der Welt mit noch so vielen Toiletten ausschließen können.“

Dass bei Großveranstaltungen aber lieber weniger als zu viel Toiletten aufgestellt werden, hat einfache Gründe: Die Klohäuschen nehmen Platz weg. Wertvolle Stellfläche, die an Imbiss- und Getränkebuden vermietet werden kann – und Platz bei der Fanmeile oder dem Karneval der Kulturen ist rar.

Dazu kommt: Nach den Todesfällen bei der Loveparade in Duisburg 2010 infolge einer Massenpanik und dem Bombenanschlag beim Marathon in Boston voriges Jahr sind die Sicherheitsvorschriften drastisch verschärft worden. Deutlich größere Flächen müssen nun als Fluchtwege und Schneisen für die Feuerwehr freigehalten werden.

Dabei ist die Urinmenge an sich für den Tiergarten das kleinste Problem. Nach der Fanmeile bei der WM 2006 hat der Bezirk beim Pflanzenschutzamt Bodenproben untersuchen lassen. Obwohl nachhaltig mit Urin gewässert worden war, sei der Harnstoff drei Tage später im Boden nicht mehr nachweisbar gewesen, erzählt Götte.

Harnstoff an sich harmlos

Die Gärtner hätten bei der WM zwar täglich mit sechs Millionen Liter aus dem Landwehrkanal in die Rasensprenger gepumptem Spreewasser gegengehalten. Aber dass rein gar kein Urin mehr da war? „Das hat uns auch erstaunt“, sagt Götte. Harnstoff in hohen Dosen habe offensichtlich keine so schädigende Wirkung auf Pflanzen wie angenommen.

Das ändert aber nichts an den Blessuren, die der Tiergarten dennoch davonträgt, wenn die Menschen in Scharen zum Pinkeln durch das Unterholz brechen. 500.000 Euro für die Schadensregulierung hat der Veranstalter der Fanmeile 2006 gezahlt. Das Problem: Die Straße des 17. Juni mitsamt östlichem Tiergarten mutiert zunehmend zum Kneipenhinterzimmer, das jeder mieten kann. Von Jahr zu Jahr werden die Großveranstaltungen mehr. Die WM 2006 war der Anfang. Inzwischen finden in dem Areal jährlich 16 bis 20 Großveranstaltungen pro Jahr statt.

Dabei hat der Senat noch nicht mal richtig Ernst gemacht: Die Straße des 17. Juni soll zu einer „Premium-Partymeile“ ausgebaut, Strom- und Wasseranschlüsse sowie Telekommunikation unterirdisch fest installiert werden. „Bisher war das, technisch gesehen, eine Straße durch den Wald“, sagt der Sprecher der Berliner Wasserbetriebe, Stefan Natz.

Ursprünglich sollte die „Premium-Mile“ zur WM 2014 fertig sein. Aber Baumaßnahmen brauchen in Berlin bekanntlich eben immer ein bisschen mehr Zeit als geplant.

„Die Großveranstaltungen sind absolut existenziell für Berlin“, sagt Burkhard Kieker, Geschäftsführer der Tourismusagentur visitBerlin, an der auch das Land Berlin beteiligt ist. Die Bruttowertschöpfung durch den Tourismus habe allein 2011 über 11 Milliarden Euro betragen, 250.000 Arbeitsplätze lebten von ihm. „Allein beim Karneval der Kulturen kommt jeder investierte Euro fünffach zurück“.

§ 118: Ordnungswidrigkeit

Das Pipi-Problem ist Kieker bewusst. „Aber die Lernkurve wird immer besser“, findet der Marketingchef. Soll heißen: Man sei bestrebt, die negativen Begleiterscheinungen zu minimieren. Für die angerichteten Schäden durch die Besucher griffen die Veranstalter ja bereits in die Tasche.

Bleibt noch die Frage: Wie oft wird öffentliches Urinieren eigentlich verfolgt, das laut § 118 Ordnungswidrigkeitengesetz eine „Belästigung der Allgemeinheit“ darstellt? Die Ordnungsämter der Bezirke seien für die Ahndung zuständig, sagt ein Polizeisprecher. „Daher haben wir keine Zahlen.“ Häufig zur Anzeige gebracht werde das Delikt jedenfalls nicht.

Auch in den eigenen Reihen sieht man das öffentliche Wasserlassen offenbar gelassen. Im Unterschied zu Brandenburg hat die Berliner Polizei keine eigenen Toilettenwagen, die bei Großeinsätzen wie dem 1. Mai mitfahren. „Vorher nicht so viel Kaffee trinken“, so der Sprecher, laute die aus Erfahrung geborene Empfehlung an Berufsanfänger. Damit niemand sein persönliches Waterloo erlebt.