AM FREITAGABEND IN DER VOLKSBÜHNE BEI LYDIA LUNCH : Sind wir nicht alle in den letzten 20 Jahren etwas älter geworden?
AUSGEHEN UND RUMSTEHEN
Das neue Jahr ist noch recht jung und doch werden alle immer älter, was eigentlich ganz natürlich ist, aber immer wieder Anlass zu Diskussionen gibt. So am Freitagabend in der Volksbühne bei Lydia Lunch. Die Achtziger- Ikone, wie man sie gerne nennt, trat mit dem Experimental-Elektroniker Philippe Petit auf und es hätte eigentlich ganz nett werden können, hätte nicht der überambitionierte Musiker gedacht, er müsse einen furchtbaren Zinnober veranstalten, um die Sängerin klanglich zu begleiten. Er scratchte berserkerhaft auf Vinyl herum, drehte manisch an Knöpfen und Apparaturen, hatte seltsame Geigenbretter und Baguette-ähnliche Instrumente dabei, in die er biss oder auf die er einschlug, und veranstaltete damit einen so unrhythmischen, zutiefst unmusikalischen prätentiösen Krach und ungute Störgeräusche, dass man sich nur schwer auf die Deklamationen von Frau Lunch einlassen konnte.
Die wiederum waren so interessant nicht, bestanden sie doch meistens aus Spoken-Word-artigen, ellipsenhaft durchkonjugierten langen Monologen: „They are watchin us, I’m watching you, you are watching us.“ Oder: „I’m looking for someone who gets me, somebody who wants me but doesn’t know what he wants, but knows how to get it. I’m looking for euphoria!!“
In den sogenannten Visuals sah man immer wieder undergroundige Jugendbilder von Lydia Lunch in aufrührerischer Pose und unschöne rostbraune Kaleidoskopmuster. Also alles nicht so toll, aber man freute sich, dass Lydia Lunch noch lebte und einigermaßen gut beieinander war. Zur Nachbesprechung im Foyer allerdings tauschten sich dann mehrere männliche Bekannte der Generation 40 plus – und bei aller Liebe keine Adonisse – entsetzt darüber aus, dass die Sängerin gar nicht mehr so aussehe wie früher. Ihr dreieckiges Gesicht wäre jetzt eher rund, sie habe zugenommen … Auf die philosophisch-rhetorische Frage, ob wir nicht alle in den letzten 20 Jahren älter geworden seien und unter Umständen anders aussähen als früher, reagierten die älteren Herren fast erstaunt und stimmten nur zögerlich zu.
Das Kontrastprogramm am Samstag führte dann zum „Auftragslover“, denn hin und wieder muss man sich zur Feindbeobachtung auch um verhasste Genres kümmern. Der Ausflug ins UCI-Kino an der Landsberger Allee war wie der in eine andere Welt: Hunderte Vorstadtpärchen in der Popcornhölle, die sich romantische Komödien anschauen, vielleicht weil ihr eigenes Beziehungsleben weder romantisch noch komödiantisch ist. Die Vorfilme waren sehr interessant. Es gibt jetzt nämlich auch eine Jobkomödie mit Harrison Ford, eine Ballkomödie mit Daniel Brühl, und der Themenkomplex Sex mit dem guten Freund wird auch wieder neu komödiantisch verhandelt. Aber dann kam der allerschlimmste, allerscheußlichste Trailer, den man sich vorstellen kann. Til Schweiger spielt im neuen Til-Schweiger-Film einen crazy unkonventionellen Vater wider Willen, und sein eigenes bedauernswertes Kind muss auch mitspielen.
Danach konnte „Der Auftragslover“ nur noch positiv überraschen, allerdings war Vanessa Paradis in der französischen Komödie eigentlich nur noch an ihrer Zahnlücke zu erkennen, denn aus der ewigen französischen Kindfrau ist scheinbar über Nacht eine zickig-anstrengende Luxus-Französin mittleren Alters geworden. Zum glücklichen Abschluss des Wochenendes fuhren wir zum Südblock ans Kottbusser Tor, und dort war es dann sehr erholsam. Die Band Wonderska spielte „Gabi weint“ und es waren wenig Kindfrauen und widerwillige Jungväter da, eher so richtige Menschen aller Geschlechter und Altersstufen.