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Archiv-Artikel

„Ich habe nie einen Kommissar gespielt“

„Nein, Moralismusmag ich nicht“„Zeit für etwas Neues“

Jürgen Tauber. Der Kommissar aus „Polizeiruf 110“. Ihn wird es bald nicht mehr geben. Und dann? EDGAR SELGE über Kindheitsängste, seine Versäumnisse und diese grobe, korrumpierte Welt

INTERVIEW SUSANNE LANG

taz: Herr Selge, haben Sie schon eine Idee, wie Ihr Kommissar Tauber enden wird?

Edgar Selge: Ja.

Sie grinsen, weil Sie es nicht verraten werden?

Das kann ich noch nicht. Tut mir leid.

Vielen Fans von Tauber tut vielmehr leid, dass Sie die Rolle aufgeben wollen. Ihnen fällt nichts mehr ein zu ihr?

Im Gegenteil, eigentlich werden die „Polizeirufe“ immer besser, der Redakteurin und mir fällt zu Tauber immer mehr ein. Es ist nur so: für mich ist es ein normaler Vorgang, Dinge zu beenden, auch wenn sie erfolgreich sind. Zehn Jahre lang habe ich zweimal pro Jahr einen „Polizeiruf“ gedreht, langsam beginnt er, in meinem Lebensrhythmus zu einer Institution zu werden. Und dieses Gefühl ist mir unangenehm. Ich möchte nicht mit Tauber in Rente gehen.

Sie haben diese Figur maßgeblich geprägt. Können Sie sich vorstellen, Tauber jemals ganz loszuwerden?

Das Schöne an dieser Figur ist natürlich die Einarmigkeit, diese körperliche Versehrtheit. Das ist eine Steilvorlage für ein starkes körperliches Spielen. Was das Innenleben der Figur angeht, kann ich nur sagen: Das hat sehr viel mit mir zu tun, mit meiner Kindheit. Das kann ich aber genauso gut bei anderen Figuren einbringen.

Ist Ihr Tauber deshalb eine so sperrige Figur? Eigentlich das Gegenteil einer Identifikationsfigur?

Ich nehme sehr wohl wahr, dass die Projektion der Zuschauer in einen Kommissar riesig ist. Sie sind bereit dazu, sich in dessen Schutz oder aus seiner Perspektive mit einem Kriminalfall, also mit Abgründen in einer Gesellschaft zu beschäftigen. Allerdings kann ich für mich nur sagen, ich habe nie versucht, einen Kommissar zu spielen. Mir ist dieser Beruf fremd. Deshalb bleibe ich in der Rolle bei mir und versuche in den Situationen so zu reagieren, wie ich das kann und nicht Herr Tauber. Daraus entsteht eine spannende Figur.

Entstand daraus auch die Idee des kommenden „Polizeirufs“ im Februar, Ihren Kommissar einen ganzen Film lang Angst haben zu lassen?

Ein Polizist, der Angst hat, ist ein spannender Widerspruch. Eigentlich soll er ja qua Amt beschützen. In „Taubers Angst“ bricht bei dem Kommissar nach einem lebensbedrohlichen Ereignis das gesamte Arsenal von panischen Angstvorstellungen auf. Ein Verdächtiger greift ihn beim Verhör an und würgt ihn fast bis zur Bewusstlosigkeit. Danach leidet Tauber an Verfolgungsangst, will den Fall aber trotzdem lösen. Die Angst vor der Angst, alleine in seinen vier Wänden zu sein, ist eben noch größer.

Wie viel Selge steckt da in Tauber?

Diese Angstzustände kenne ich aus meiner Kindheit.

Aber jetzt haben sie sich aufgelöst?

Tja, wenn man das wüsste. Die unangenehmsten Erfahrungen im Leben kapseln sich ganz schnell ab. Man glaubt, sie überwunden zu haben und plötzlich, in einer bestimmten Situation als Erwachsener, brechen sie wieder auf. Das Interessante daran finde ich, dass die schmerzhaften Erfahrungen der Kindheit, und da gehört Angst sehr stark dazu, nicht so verfügbar sind, wie ich es gerne hätte. Ich kann nicht wie in einem Buch in meiner Erinnerung spazieren gehen und sagen: Zeig dich doch noch mal, du Situation. Die zeigen sich nicht, die krümmen sich weg. Oder ich krümme mich weg. Das ist das Gleiche.

Aber Sie verarbeiten sie über Ihren Beruf?

Oftmals lenke ich mich ab, mit Konsum oder rastlosen Tätigkeiten. Aber in meinem Beruf kann ich anhand von Drehbüchern diese schmerzhaften Erinnerungen wieder mobil machen, sie für mein Spiel benutzen.

Woher kommt die Angst Ihrer Kindheit – doch nicht etwa, weil Ihr Vater Gefängnisdirektor war?

Na ja, könnte man meinen. Nein, meine Kindheit kommt mir heute vor wie Gulliver bei den Riesen: Ungeheuer dramatisch, geradezu blutig, bedrohlich. Eine meiner frühesten Erfahrungen ist ein Erlebnis mit dem Nachbarsjungen. Er befahl mir, in eine Kiste zu steigen, schloss den Deckel und verbat mir, diese Kiste zu verlassen, bis er es sagte. Ich bin da auch nicht raus, weil ich dachte, ich müsse gehorchen. Selbst mein Vater hatte große Mühe, mich herauszuzerren. Aus meiner Perspektive als Kind war das eine Vernichtung des Ichs. Ich weiß nicht genau, warum ich es als solche empfinde, vielleicht weil ich ein stolzer Mensch bin? Oder weil ich nicht bereit bin, zu akzeptieren, dass das Leben mir Leiden abverlangt.

Kommt daher auch Ihre Wut, die Sie antreibt, wie Sie einmal meinten?

Ja.

Wie wirkt sich diese Wut bei Ihnen aus?

Sie ist einfach da. Die Erfahrungen von Machtmissbrauch ziehen sich durch mein Leben – so kommt es mir zumindest vor. Als ich einmal an einem Theater einen Vertrag abgeschlossen hatte, war die Technik gerade im Streik. Ich habe mich für ihre Situation interessiert und meine Meinung dazu gesagt. Das heißt, ich war nicht auf der Seite der Schauspieler, die trotzdem jeden Abend spielen wollten, und sei es ohne die Techniker. Am nächsten Tag teilte mir der Intendant ganz freundlich mit, wie sehr er über mein Verhalten bei dem Streik enttäuscht sei und fragte mich dann, ob ich nicht genügend Geld bekäme. Mir ist richtig das Blut aus dem Gesicht gewichen! Ich hatte das Gefühl, mit Vertragsabschluss meine demokratischen Rechte verkauft zu haben.

Sie hätten sich nicht wehren können?

Das hängt doch immer davon ab, wie sensibel man auf einen derartigen Machtmissbrauch reagiert. Mich versetzen diese Ereignisse immer in eine Form von Sprachlosigkeit. Andererseits benötige ich für meine Arbeit einen Schutzraum. Daraus entsteht ein unauflösbarer Widerspruch zwischen Harmoniebedürfnis und berechtigter Wut. Mir fällt es sehr schwer, die Welt in ihrer Grobheit und Korruptheit zu akzeptieren.

Ist das ein Grund, weswegen Sie dieser Welt in Ihren zahlreichen gesellschaftskritischen Rollen einen Spiegel vorhalten?

Mir ist klar, dass es nicht reicht, diese Problematik in Rollen zu kompensieren. Vom Beruf abgesehen bin ich wie alle anderen auch ein Bürger, der Zeitungen liest, der sich seine Nachbarn ansieht, der versucht, einen Blick auf die Gesellschaft zu werfen und sich zu ihr zu verhalten. Und dabei spüre ich, dass die Gesellschaft dabei ist, sich zu teilen: Die wachstumsorientierte Gesellschaft bildet einerseits eine Gruppe von Menschen heraus, die sich über eine artikulierte Stärke definiert. Auf der anderen Seite stehen Menschen, die sich immer stärker als Verlierer stigmatisieren. Die Gefahr ist, dass die stärkere Seite jene Schicht aktiv produziert, indem sie ihnen dieses Etikett „Verlierer“ anheftet. Im Anschluss verhält man sich teilnahmslos oder teilnahmsvoll.

Ein Akt der Distinktion?

Ja, und eine Flucht davor, Minderwertigkeitsgefühle, Leidensfähigkeit oder Angst bei sich selbst zu suchen. Denn dann würde man wahrscheinlich auch den Wert dieser Gefühle erkennen: Dass es sich nicht nur um gesellschaftlich oder durch den Arbeitsmarkt bedingte Umstände handelt, die Verlierertum nach sich ziehen. Sondern eigentlich handelt es sich um etwas, das zu jedem Menschen gehört. Jede Existenz hat beides: wahnsinnige Angst vor dem Tod, vor anderen Menschen, Scham, Scheitern, und gleichzeitig verfügt sie über Freude, Übermut.

Suchen Sie beides bei sich selbst?

Ich versuche es, ja. Ich möchte nicht sagen: Die sind so, sondern ich bin so. Deshalb versuche ich, auch zur Identifikationsfigur solcher Gruppen zu werden.

Als Schauspieler oder als Mitglied dieser Gesellschaft?

Indem ich das hier in diesem Gespräch sage, eher als Gesellschaftsmitglied. Ich kann mir mein eigenes Leben nicht vorstellen ohne meine Minderwertigkeitsgefühle, die aber aufgefangen werden von einer Selbsteinschätzung, die Mut beinhaltet. Ob das so bleiben wird, weiß ich nicht. Es fällt mir zumindest nicht schwer, das Gefühl eines Verlierers nachzuvollziehen. Eines der schlimmsten Ereignisse in meinem Leben war eine Umbesetzung an den Kammerspielen 1980. Ich habe eine Rolle in „Leonce und Lena“ abgegeben, weil ich nicht mit ihr fertig wurde, aber auch keine Verbündeten in der Produktion hatte, die mich getragen hätten. Über diesen Sturz in die Leere bin ich aber dankbar.

Weswegen?

Wenn man auf der ganzen Linie scheitert, ist das eine Form von Tabula rasa. Man muss sich mit sich selbst und seiner Schwäche auseinandersetzen. Mir tut das gut, auch wenn es schmerzhaft ist. Bei Rilke in der zehnten Elegie, wo es um Sterben geht, heißt es: „Wir, Vergeuder der Schmerzen. Wie wir sie absehn voraus, in die traurige Dauer, ob sie nicht enden vielleicht. Sie aber sind ja unser winterwähriges Laub, unser dunkeles Sinngrün, eine der Zeiten des heimlichen Jahres –, nicht nur Zeit –, sind Stelle, Siedelung, Lager, Boden, Wohnort“. Das sagt Rilke über den Schmerz. Darüber nachzudenken und es nicht sofort in die Schublade Masochismus zu schieben, finde ich wichtig. Aber das hat in unserer Gesellschaft keinen Platz. Da kann man jetzt sagen, das ist schöngeistiges Zeug.

Sie mochten Rilke auch nicht immer, wie Sie einmal eingestanden haben.

Ja, aber das hat sich total gewandelt, heute komme ich ohne Rilke gar nicht aus, um mich selbst auszudrücken. Eigentlich ist es nur ein Ausdruck dessen, was ich mir wünschte – auch für die Gesellschaft: anhalten zu können, aufhören zu schaffen. Denn alles, was wir produzieren, läuft auf Vernichtung hinaus. Wir sind in einer unendlichen Schraube von Konsum und Zerstörung. Alles, was wir herstellen und verbrauchen, ob das nun ein Haarspray oder ein Eisschrank ist, trägt dazu bei, dass die Polkappen schmelzen. Aber wir schaffen es nicht, anzuhalten. Das ist doch verrückt!

Vielleicht weil die Umweltkatastrophe nicht plötzlich über uns kommt, sondern langsam?

Wir befinden uns in einem Albtraum, bei dem wir das Unheil auf uns zukommen sehen, aber uns nicht bewegen können. Die Grünen versagen in diesem Punkt ja auch. Eigentlich bräuchten wir wieder eine radikale ökologische Partei, die sich nur dem Klimaschutz verschreibt – und das wirtschaftsfreundlich. Man kann auch Autos exportieren, die nicht mit Benzin laufen.

Löst die drohende Klimakatastrophe bei Ihnen auch eine Angststarre aus oder vielmehr das Gefühl, etwas tun zu müssen?

Ach doch, ich würde auch gerne etwas tun.

Achtung, jetzt werden Sie gleich eingekauft!

Es mag nun komisch klingen, aber dies gehört auch zu den Gründen, weswegen ich den „Polizeiruf“ aufgebe. Man muss aufpassen, dass man in seinem Beruf nicht zu einem Hamster wird, der in seinem Rad läuft. Wenn ich so viel arbeite wie dieses Jahr, bleibt keine Zeit für soziales oder ökologisches Engagement. Deshalb richte ich mich gerade neu aus.

Auch im Beruf?

Vor allem bei meiner Theaterarbeit achte ich zunehmend darauf, dass ich mir Arbeitszusammenhänge aussuche, die ich nicht nur wegen der Rollen, sondern grundsätzlich für wichtig halte.

Welche wären das?

Im Bereich des Theaters arbeite ich seit einiger Zeit mit Regisseur Jan Bosse daran, die vierte Wand zum Zuschauer abzubauen. Mit den klassischen Stücken „Faust“, „Menschenfeind“ und „Der zerbrochene Krug“ haben wir versucht, die Zuschauer unmittelbar anzusprechen. Wir wollen Stücke wie einen Diskurs behandeln, zu dem der Zuschauer sich verhalten muss. Theater ist ja der letzte Freiraum für gesellschaftliche Diskussionen. Was in meinem Beruf, aber auch der Medienöffentlichkeit fehlt, ist der bekennende Ton.

Sie sprechen von Haltung?

Nein, Haltung umfasst einen Moralismus, den ich nicht mag. Ich glaube, es wird zunehmend wichtiger, persönlich Stellung zu beziehen, auch wenn es ungelenk oder fragwürdig ist. Auf jeden Fall führt es weiter, als sich immer nur in einem Bereich der Sicherheit zu bewegen und Unsicherheiten nur bei anderen zu diagnostizieren. Selbstverständlich bedeutet das aber das Risiko, Fehler zu machen.

Sie haben einmal gesagt, Sie bräuchten Illusionen – worin bestehen die?

Wenn meine protestantischen Eltern früher darüber gesprochen haben, wie meine Mutter in den Himmel kommt, dass sie dabei so viel Aufwind haben wird, dass sich noch so einige dranhängen können – wobei klar war, dass ich das nicht sein werde, habe ich immer gesagt: Na ja, schön werden wird’s auf alle Fälle. Ich habe grundsätzlich einen nicht zu verwüstenden Optimismus, der mir sagt, dass es sinnvoll ist, hier zu leben. Das geht aber Hand in Hand mit dem Gefühl, große Versäumnisse in diesem Leben mit mir herumzutragen. Aber das widerspricht nicht dem Glauben daran, dass die Welt veränderbar ist. Pessimistisch und optimistisch bleiben im Grunde ja nur Lebenshypothesen, bei denen es nicht darum geht, Recht zu haben.

Sondern?

Um Prioritätensetzung. Jetzt ist eben Zeit für etwas Neues.

Das könnten auch Taubers Schlussworte sein: Etwas Neues im Leben suchen, den Job an den Nagel hängen …?

Mhm, könnte sein. So werden wir es aber wahrscheinlich nicht machen. Es wird einen Konfliktfall geben – mehr verrate ich wirklich nicht.