: Die weiteren Aussichten: extrem
Das Wetter spielt verrückt: Rekordtemperaturen bringen die Natur aus dem Takt. EU-Studie warnt vor 86.000 Klimatoten und massiven wirtschaftlichen Auswirkungen des Klimawandels. Umweltverbände kritisieren politische Ziele als unzureichend
VON MALTE KREUTZFELDT
Die Meldungen über ungewöhnliche Wetterphänomene kommen derzeit im Stundentakt: Die Januar-Temperaturen in Deutschland waren an den ersten acht Tagen des Jahres sechs Grad wärmer als im langjährigen Durchschnitt – in Berlin wurde am Dienstag mit 14 Grad der wärmste 8. Januar seit Beginn der Wetteraufzeichnungen vermeldet. Im Südwesten Frankreichs wurden mit 19 Grad in dieser Wochen ebenso Spitzenwerte gemessen wie im New Yorker Central Park mit 22 Grad.
Durch das Extremwetter gerät die Natur aus dem Takt: Marienkäfer fliegen, Forsythien treiben aus, Dachse verzichten auf die Winterruhe und Zugvögel bleiben im Norden, statt weiter in den wärmeren Süden zu fliegen. In der Ostsee, wo das Wasser derzeit rund drei Grad wärmer ist als im langjährigen Mittel, erwartet das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrografie ein massenhaftes Auftreten von Rippenquallen, weil die Tiere im warmen Wasser dieses Winters nicht absterben.
Auch Menschen spüren die Auswirkungen: In vielen Teilen Deutschlands blühen bereits Hasel und Erle, sodass Allergiker schon jetzt unter Pollenflug leiden. Und für das Frühjahr rechnen Biologen aufgrund der derzeitigen Wärme mit einer Zeckenplage.
Ob sich am Wetter kurzfristig etwas ändert, ist offen – Weisheiten wie „Ist Dreikönig kein Winter, folgt auch keiner mehr dahinter“ helfen nur bedingt. Auch als Nachweis für den Klimawandel können die derzeitigen Wetterkapriolen nicht dienen. „Aus Einzelereignissen kann man zunächst nichts ableiten, denn extreme Wetterphänomen hat es schon immer gegeben“, sagte Friedrich-Wilhelm Gerstengarbe, Meteorologe am Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung, der taz. „Die letzten Jahrzehnte zeigen jedoch eine deutliche Zunahme milder Winter, und das ist ein Signal für die Klimaveränderung.“
Wie sich der Klimawandel in Europa auswirken wird, hat die EU-Kommission in einer Studie untersuchen lassen. Die Ergebnisse sind Medienberichten zufolge dramatisch: Schon bei einem Temperaturanstieg um 2,2 Grad bis zum Jahr 2071 – das ist das günstigere der untersuchten Szenarien – ist mit einem Anstieg des Meeresspiegels um einen Meter zu rechnen, was vor allem tief liegende Länder wie die Niederlande und Belgien bedroht. Rund 86.000 Menschen würden der Studie zufolge an Hitze und Kälte sterben. Zudem sei zu erwarten, dass sich das wirtschaftliche Gefälle in Europa extrem verschiebt. Durch lange Dürreperioden gingen die Ernteerträge im Mittelmeerraum um 20 Prozent zurück, während sie in Nordeuropa um 70 Prozent steigen könnten.
Nicht nur in der Landwirtschaft, auch im Tourismus befürchtet die EU massive Auswirkungen. So könnten sich die Einnahmeausfälle in Spanien, Portugal, Italien und Griechenland auf 100 Milliarden Euro summieren, weil Nordeuropäer nicht mehr in den Süden reisen müssen, sondern die Sonne zu Hause genießen können.
Angesichts der Alarmmeldungen von der Klimafront kritisierten Umweltverbände den gestern angekündigten Aktionsplan der EU, der statt 30 nur noch 20 Prozent geringere CO2-Emissionen bis 2020 anstrebt. „So steuern wir sehenden Auges in die Katastrophe“, sagte Greenpeace-Klimaexperte Karsten Smid. Auch Hubert Weinzierl, Präsident den Deutschen Naturschutzrings, kritisierte, dass die EU-Ziele weit hinter wissenschaftlichen Erkenntnissen und technischen Möglichkeiten zurückblieben. Die EU mache einen „tiefen Bückling vor den nationalstaatlichen Interessen und rückwärts gewandten Energielobbyisten“.
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