: berliner szenen Neuköllnerin werden
Der Zauberkönig
Ich bin neu hier. Hermannstraße/Ecke Leinestraße. Ich habe Heimweh. Oft sieht man mir auch an, dass ich noch nicht lange in dieser Gegend wohne. Ich schaue Leuten in die Augen, fange mir deshalb merkwürdige Blicke ein und trete in Hundehaufen. Ich stolpere über noch unbekannte Unebenheiten im Pflaster und anfangs habe ich an der Ampel gegenüber vom St.-Thomas-Friedhof gewartet, von der jeder weiß, dass sie nie grün wird.
„Bei Papa“ bemüht sich, mir die Familiarität meines alten Kiezes wiederzugeben, aber wohl nur dem Namen nach. Vergeblich suche ich eine Soljanka auf der Speisekarte. Unvertraut sind mir auch die aneinander gereihten Grabkranz- und Blumenläden. Dann gibt es noch einen seltsamen Fisch-Kebab-Laden und nebenan den „Zauberkönig“. Darüber leuchtet die Einflugschneise wie ein symmetrisches Sternenbild. In der Nacht sieht jedes landende Flugzeug aus, als wolle es in eines der nahe liegenden Häuser rasen. Auch in meines.
Der „Zauberkönig“ existiert schon seit 1884. Hier kann man Hasenzähne aus Plastik für einen Euro fünfzig kaufen. Es gibt auch falsche Hundehaufen, Schwänze zum Aufziehen, Knallerbsen und Tarotkarten. Die Dinge im Schaufenster sehen verblichen und staubig aus. Ich bin überrascht, wie ordentlich der Laden von innen ist, als ich ihn betrete. Außerdem bin ich nicht die Einzige im Laden. Vor mir ist ein Herr mittleren Alters an der Reihe. Er ist jetzt mit der Verkäuferin in ein Gespräch vertieft. Arbeiten will er im „Zauberkönig“, sagt der Herr. Die Frau hinter dem Tresen bedauert, momentan niemanden einstellen zu können. Dass der Laden sich überhaupt noch halte, sagt die Verkäuferin, grenze an Zauberei. Sie lächelt, und plötzlich fühle ich mich zu Hause.
MAREIKE BARMEYER