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Archiv-Artikel

Windhund und Kreidefläche

DOKUMENTARFILM Katrin und Susanne Heinz beobachten in „Art’s Home is my Kassel“ Carolyn Christov-Bakargievs Documenta 13

Katrin und Susanne Heinz verlassen sich zu oft auf den einen Moment, in dem ein Akteur eine These zum Besten gibt

VON CRISTINA NORD

Im Sommer 1992 arbeitete ich als Aufsichtskraft im Fridericianum von Kassel. Es war die Zeit der neunten Documenta. Der belgische Kurator Jan Hoet verwandelte das „Museum der hundert Tage“ in das, was man ein paar Jahre später Kunstevent nannte. Es gab viele unmittelbar zugängliche Arbeiten wie „Man Walking to the Sky“ von Jonathan Borofsky, es gab Boxkämpfe, Kinovorführungen, ein außergewöhnlich präsentes Marketing und am Ende einen Besucherrekord. Ich hatte mich auf einen ruhigen Sommerjob gefreut; doch daraus wurde angesichts des Andrangs nichts. So stoisch wie möglich saß ich vor „Precious Liquids“ von Louise Bourgeois, einem meterhohen, begehbaren Holzfass mit alchemistischem Inneren, und sorgte dafür, dass immer nur acht Besucher zur gleichen Zeit das Fass betraten. Oder ich kauerte in einer Ecke von Ilya Kabakows Toilettenhäuschen und achtete darauf, dass niemand einen der staubigen Einrichtungsgegenstände mitgehen ließ. Ich mochte diese Position nicht besonders, weil sie auf ungute Weise die Polizistin in mir zum Vorschein brachte. Doch das war nur ein Teil des Unbehagens. Denn so sehr es auch nervte, angestellt zu sein, um das Verhalten der Besucher zu reglementieren, so sehr nervten doch auch diejenigen, die ihre Überforderung im Angesicht der Exponate umstandslos in deren Abwertung ummünzten. Und das waren viele. Mehrmals täglich zu hören, dieses oder jenes Kunstwerk könne doch auch von einem Kind stammen, ernüchtert.

Die Diskrepanz zwischen den Anforderungen, die zeitgenössische Kunst an ihre Betrachter stellt, und dem Unwillen der Betrachter, sich darauf einzulassen, ist in Kassel, dieser Stadt in der Abgeschiedenheit Nordhessens, besonders ausgeprägt. So nimmt es nicht Wunder, dass sie in „Art’s Home is my Kassel“, einem Dokumentarfilm von Katrin und Susanne Heinz, eine entscheidende Rolle spielt. Die beiden Filmemacherinnen sind Schwestern und in Kassel aufgewachsen, und sie denken am Beispiel der jüngsten, von Carolyn Christov-Bakargiev kuratierten Documenta über diese Diskrepanz nach. Am Anfang stehen programmatisch Bilder eines Rentners vor einem Erdhügel und einem Bauzaun, im Hintergrund die Orangerie, im Begriff zu entstehen ist Song Dongs „Doing Nothing Garden“. „Kunst ist was anderes“, weiß der Mann.

Die Filmemacherinnen grenzen sich von diesen Ressentiments nicht scharf ab, aber sie gehen darüber hinaus, indem sie auch den Raum durchmessen, der sich in Kassel eben nur alle fünf Jahre einmal öffnet, wenn die Documenta stattfindet. So stellen sie zum Beispiel Frank Baum vor, den Schreiner, der die Vitrinen für Mark Dions „Xylothek“ anfertigt. Als Dion die Werkstatt besucht, um die Arbeit abzunehmen, strahlt Baum vor Stolz. Sie begleiten Markus Hanisch, den Architekten, der die Holzhäuser in der Karlsaue errichten lässt und außerdem den Bau von Sam Durants „Scaffold“ betreut, eine raumgreifende Arbeit aus Holzplattformen, Treppen und Geländern, die die Praxis der Todesstrafe in den USA verhandelt, indem sie Hinrichtungsstätten nachbildet. Sie begegnen der Kunststudentin Rui Yin, die als worldly companion Besucher durch die Schau führt. Und sie folgen ihren Eltern, die in den Ausstellungsräumen des Hauptbahnhofs auf rührende Weise nach Wörtern und Beschreibungen suchen für das, was sie sehen.

Dabei gibt es immer wieder interessante Momente, etwa wenn Rui Yin chinesische Besucher zu Durants „Scaffold“ führt und sie in eine Diskussion über die Todesstrafe verwickelt, indem sie erzählt, ihr Vater arbeite an einem Gericht in Szechuan und sei dort für Todesstrafen zuständig. Einer der chinesischen Besucher lobt die abschreckende Wirkung drakonischer Strafen und preist Singapur als beispielhaft. Ihm wird widersprochen.

Leider versäumen es Katrin und Susanne Heinz in diesem und in anderen Momenten, ein bisschen länger hinzugucken. „Art’s Home is my Kassel“ setzt der Zeitökonomie, die sich eine TV-Reportage wünscht, nichts entgegen; vom geduldigen Hinsehen hält der Film nichts, lieber springt er vom „Scaffold“ zu Pierre Huyghes zauberhaften Windhunden, weiter zu den politischen Aktivisten, die vor dem Fridericianum campieren, und weiter zu der Restauratorin, die eine Arbeit von Tacita Dean ausbessert, nachdem Besucher die Kreideflächen verwischt haben. Wer in letzter Zeit andere Dokumentarfilme über Orte der Kunst gesehen hat, etwa Johannes Holzhausens „Das große Museum“ oder Frederick Wisemans „National Gallery“, wird deren Geduld, deren Ausdauer und deren Hingabe an den Gegenstand vermissen. Katrin und Susanne Heinz verlassen sich zu oft auf den einen Moment, in dem ein Akteur eine These, ein Resümee zum Besten gibt. Dass sich Dinge nicht immer auf den Punkt bringen lassen, sich einmal so und einmal anders zeigen, kümmert die Filmemacherinnen nicht. Ihrer dokumentarischen Strategie liegt an Ergebnissen, nicht an Prozessen. Von den suchenden, tastenden Bewegungen der Kunst entfernt sich der Film weit.

Hinzu kommt, dass „Art’s Home is my Kassel“ kein Auge dafür hat, wie gut es Christov-Bakargiev im Sommer 2012 gelang, auf die spezifische Geschichte Kassels einzugehen (etwa indem sie das ehemalige Konzentrations- und Straflager Guxhagen-Breitenau fünfzehn Kilometer im Süden der Stadt zum Ausstellungsort machte). Auch über die Vorgeschichte der Kunstausstellung erfährt man nichts, obwohl Christov-Bakargiev sie in die aktuelle Schau einschloss. Von dem, was Arnold Bode antrieb, als er die Documenta 1955 ins Leben rief, vom Wunsch nach ästhetischer Entnazifierung, ist nie die Rede. Eine verpasste Gelegenheit.

■ „Art’s Home is my Kassel“. Regie: Katrin und Susanne Heinz, Dokumentarfilm, Deutschland 2014, 86 Min.