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Archiv-Artikel

„Nicht nur bei Partys benachteiligt“

Den Bildungsforscher Georg Auernheimer wundert es nicht, wenn perspektivlose Migrantenkinder leichter austicken und zuschlagen. Nach der Krise der Rütlischule hat sich für Zuwandererkinder im deutschen Schulsystem nur wenig verbessert

taz: Herr Auernheimer, in einem besseren Berliner Viertel haben Migrantenjugendliche einen Polizisten zusammengeschlagen, weil ihnen der Zugang zu einer Schulparty verwehrt wurde. Bekommen wir französische Verhältnisse?

Georg Auernheimer: Auch wenn die Gettoisierung in Frankreich fortgeschrittener ist als hier, lässt sich das sehr gut vergleichen. Solch ein Ereignis wie in Berlin zeigt nur, welche Diskriminierung und Ausgrenzung Migrantenjugendliche in Deutschland ihr Leben lang erfahren. Dass sie dann austicken und um sich schlagen, weil sie von einer Party ausgeschlossen werden, wundert mich nicht.

Sie sprechen von rassistischer Ausgrenzung?

Es geht nicht nur darum, dass sie nicht auf Partys oder in Diskos gelassen werden. Jugendliche mit Migrationshintergrund machen die Erfahrung, dass sie in der Schule doppelt so oft sitzenbleiben, die Hälfte von ihnen hat nur einen Hauptschulabschluss, viele überhaupt keinen. Auf einen Ausbildungsplatz haben die meisten keine Chance.

Aber sie sind doch nicht dümmer als Jugendliche mit deutschem Hintergrund.

Natürlich nicht. Das Bundesinstitut für Berufsbildung hat in einer Studie herausbekommen, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund bei gleicher Anstregung und gleichen Leistung nicht annähernd die gleichen Chancen auf eine Lehrstelle haben wie Muttersprachler.

Nutzt da das neue Gleichbehandlungsgesetz etwas?

Wenn sich die Jugendlichen trauen, zu klagen, dann wäre das sicher ein Forschritt. Aber in in Deutschland verstärken sich Diskriminierungsmechanismen durch die Schwächen des deutschen Bildungssystems. Ein Problem ist die frühe Selektion. Für Migranten ist das noch problematischer als für deutsche Jugendliche: Grundschullehrer schicken sie öfter auf die Hauptschule statt auf die Realschule oder das Gymnasium, weil sie nicht erwarten, dass sie zu Hause genug Unterstützung bekommen. Denn das deutsche System ist eben auch darauf ausgerichtet, dass die Förderung vom Elternhaus kommt.

Nach den Ereignissen an der Rütli-Hauptschule sollte doch auch das anders werden, Stichworte sind etwa Ganztagsbetreuung oder frühe Deutschförderung.

Wenn ich mir anschaue, dass nur ein Viertel der Kindergärten Ganztagseinrichtungen sind, habe ich nicht das Gefühl, dass sich viel getan hat. Und bei der Deutschförderung im Vorschulalter gibt es zwar Bemühungen. Aber wenn man sie nur isoliert in der Kita anbietet, bringt sie nichts. Sie muss in das Gesamtkonzept einer Ganztagsbetreuung integriert werden. Aber davon gibt es wie gesagt zu wenig.

Was halten Sie von der Forderung nach mehr Sozialarbeitern oder Psychologen an den Schulen, die nach solchen Ereignissen wie etwa an der Rütli-Schule reflexartig gestellt werden?

Diese Forderung ist ja verständlich, wenn Schulleiter oder Lehrer sich überfordert fühlen. Dass die Jugendlichen auf den Hauptschulen nicht lernwillig sind, liegt aber im System. Denn wer weiß, dass er mit dem Abschluss keine Chance hat, ist nicht motiviert. Das wirkt sich auch zunehmend auf die Lehrer aus …

wie meinen Sie das?

Schauen Sie sich doch mal an, wie viele von ihnen Probleme mit dem Alkohol haben oder wie oft Lehrer wegen eines Burn-outs aus dem Beruf ausscheiden müssen. Nicht nur deshalb halte ich nichts davon, mit ein paar mehr Lehrern oder Sozialarbeitern an der Oberfläche herumzudoktorn. Beinahe alle Bildungsexperten sind sich einig, dass wir ein integriertes System brauchen, in dem die Schüler und Schülerinnen individuell gefördert werden. Aber die Politik ist in diesem Punkt beratungsresistent. INTERVIEW: NATALIE WIESMANN