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Archiv-Artikel

Umzingelt und entrückt

KÄMPFE Gaddafi beschuldigt al-Qaida, libysche Teenager unter Drogen gesetzt und zum Aufstand angestachelt zu haben

Von B.S.

BENGASI/BERLIN taz/dapd/rtr | In welcher Realität lebt Muammar al-Gaddafi eigentlich? Seine jüngste Fernsehansprache erinnerte an die Erklärungen des damaligen irakischen Informationsminister Mohammed Said al-Sahhaf, genannt „Comical Ali“. Am 7. April 2003 sagte er auf einer Pressekonferenz, es seien keine US-Truppen in Bagdad, und die US-Soldaten am Stadtrand begingen zu Hunderten Selbstmord. Zu diesem Zeitpunkt patrouillierten US-Panzer einige hundert Meter entfernt und waren auf den Fernsehbildern im Hintergrund zu sehen.

Ähnlich realitätsfern wirkte Gaddafis Ansprache, die sich an die Einwohner der umkämpften Stadt as-Sawijah 50 Kilometer westlich der Hauptstadt Tripolis richtete. Im libyschen Staatsfernsehen, wo er telefonisch zugeschaltet wurde, warf Gaddafi Demonstranten gegen seine Herrschaft vor, unter Drogen zu stehen, die sie von „ausländischen Agenten“ erhalten hätten. „Sie geben den Kindern halluzinogene Pillen und schicken sie in den Tod. Wer nur einen Funken Verstand besitzt, macht bei so was nicht mit“, sagte Gaddafi. Zugleich beschuldigte er die Oppositionellen, Sprachrohr von Al-Qaida-Chef Ussama Bin Laden zu sein. „Diese Leute habe keine echten Forderungen, ihre Forderungen sind die von Bin Laden.“ Die Situation in Libyen sei anders als in Tunesien oder Ägypten, so Gaddafi; die Menschen hätten alle Macht inne und könnten jederzeit korrupte Beamte absetzen. Er selbst besitze keine Macht, sondern sei ein eher „symbolischer Führer“.

Das libysche Regime schien am Donnerstag zu versuchen, die fortschreitende Umzingelung der Hauptstadt Tripolis durch die Aufständischen mit militärischer Gewalt zu durchbrechen. Aus as-Sawijah berichtete ein Zeuge der Nachrichtenagentur AP, Soldaten hätten eine Moschee beschossen. Dabei habe es viele Tote und Verletzte gegeben.

Diesen Angaben zufolge waren am Mittwoch unter Befehl des Gaddafi-Gefolgsmanns Abdullah Megrahi Soldaten in as-Sawijah eingerückt. Megrahi habe die in der Moschee und auf dem Märtyrerplatz versammelten Demonstranten aufgefordert: „Entweder ihr geht, oder ihr erlebt ein Massaker.“ – „Wir sagten ihm, wir gehen nicht, entweder Tod oder Sieg“, berichtete der Zeuge. Am Donnerstagmorgen um 9 Uhr sei der Angriff erfolgt. Er sei erschüttert, dass libysche Soldaten mit automatischen Waffen auf ihre Landsleute geschossen und Luftabwehrraketen auf das Minarett der Moschee gefeuert hätten. Seit Beginn der Unruhen am 15. Februar sind etliche Militäreinheiten zur Protestbewegung übergelaufen. „Was geschehen ist, ist schrecklich: Die, die uns angegriffen haben, sind keine Söldner, es sind Söhne unseres Landes“, sagte der Mann.

Wie ein anderer Augenzeuge berichtete, griffen regimetreue Truppen auch die Rebellen in der Stadt Misurata an. Auf einem Flugplatz nahe der drittgrößten libyschen Stadt sollen Milizionäre auf eine Menschenkette, die schützend das Gelände umstellt hatte, geschossen haben. Wie viele Tote und Verletzte es gegeben hat, konnten die Augenzeugen nicht sagen. „Sie haben Leichenberge und Blutlachen hinterlassen“, sagte ein Anwohner des Flugplatzes bei Misurata gegenüber AP. „Die Krankenhäuser sind voller Toter und Verletzter.“

Misurata liegt etwa 200 Kilometer von Tripolis entfernt. Die Aufständischen haben bereits große Teile Ostlibyens unter ihre Kontrolle gebracht, darunter die Hafenstadt Bengasi, 1.000 Kilometer von Tripolis entfernt. Die Opposition im Osten rief unterdessen zur „Befreiung“ der Hauptstadt auf. Am Freitag soll es einen „Marsch auf Tripolis“ geben.

Inzwischen weitet sich die Rebellion aber auch auf westliche Landesteile aus. Die 120 Kilometer westlich von Tripolis gelegene Stadt Suara soll nach Aussagen geflohener Ägypter unter der Kontrolle bewaffneter Volkskomitees stehen.

Die Regierung forderte am Donnerstag ihre Gegner zur Abgabe ihrer Waffen auf. Zugleich rief das Volkskomitee für allgemeine Sicherheit in einer im Staatsfernsehen verlesenen Erklärung zur Denunziation von Anführern der Proteste auf und stellte eine großzügige Belohnung in Aussicht. Vizeaußenminister Chaled Kaim drohte Reportern ohne Journalistenvisum mit der Festnahme. Dem widersprach Gaddafis Sohn Seif al-Islam später und sagte, das Land sei für alle Journalisten offen.

Unterdessen hat erstmals seit Beginn des libyschen Aufstands ein Mitglied der Herrscherfamilie von der Möglichkeit einer neuen Regierung und der Rolle Gaddafis gesprochen. Ein Sohn des Revolutionsführers, al-Saadi al-Gaddafi, sagte in einem Telefoninterview mit der Financial Times, sein Vater sei bereit, mit jeder neuen Regierung zusammenzuarbeiten. „Mein Vater würde als der große Vater bleiben, der berät“, erklärte al-Saadi. Er fügte hinzu, sein Bruder Seif al-Islam arbeite derzeit an einer Verfassung. Bislang hat Libyen keine Verfassung.

Zu der Lage im Osten des Landes sagte er, al-Qaida habe das „Chaos“ ausgenutzt, um die Kontrolle in der Region von den legitim Protestierenden und Monarchisten zu übernehmen. Er behauptete weiter, „tausende“ Al-Qaida-Kämpfer hielten sich in Libyen auf.

Erstmals seit Beginn des Aufstands meldete sich die Terrororganisation al-Qaida im islamischen Maghreb zu Wort. In einer Erklärung verkündete die Gruppe ihre Solidarität mit den Aufständischen und verurteilte die Gewalt seitens des Regimes. Dies gab die US-Gruppe Site bekannt, die al-Qaida und islamistische Internetseiten beobachtet. B.S.