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Archiv-Artikel

Die Mörder in den Akten

„Hier liegen immer hunderte Fälle herum, alle sind wichtig, weil die Täter wegsterben“

VON MIRIAM BUNJES

„Fallschirmpanzerdivision Hermann Göring, wo hab ich dich?“ Ulrich Maaß klemmt sich den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter, um den Aktenstapel auf der Fensterbank durchzublättern. „Göring, Göring... ach da bist du ja.“ Er lacht und spricht einige Namen und Zahlen ins Telefon, Adressat ist ein Teilnehmer in Ludwigsburg. Es geht um ein Massaker, wie so oft im Berufsleben des Dortmunder Oberstaatsanwalts, der seit 1996 die nordrhein-westfälische Zentralstelle zur Bearbeitung von Massenverbrechen der Nationalsozialisten leitet. Viel zu leiten gibt es da nicht mehr, außer Maaß arbeiten hier noch ein Staatsanwalt mit halber Stelle, ein Rechtspfleger und zwei Assistentinnen.

Ulrich Maaß ist 60 Jahre alt, trägt einen dezent grünen Anzug und hat erstaunlich viele Lachfalten. Die zeigen sich auch während er sich mit dem Staatsanwalt der anderen deutschen NS-Aufklärungsstelle in Ludwigsburg über ein gruseliges Verbrechen austauscht. Es hat sich in Civitella in Val di Chiana, Toskana, Italien, im Jahr 1944 zugetragen. 200 Einwohner wurden hier vom Hermann Göring unterstellten Fallschirmjägerkommando erschossen oder in den Worten des Ermittlers: „Sie wurden einfach abgeknallt“. Die Toskana war eine Hochburg der Resistenza, und als Italien 1943 auf die Seite der Alliierten wechselte, musste das vor allem die Bevölkerung büßen. „Dafür wurden ganze Dörfer niedergemetzelt“, sagt Maaß, der sich an solche Geschichten gewöhnt hat, wie er sagt.

Und auch daran, dass sie in der Regel ungesühnt bleiben. Denn: Inzwischen sind 90 Prozent der Täter von damals tot. Wer 1944 zwanzig Jahre alt war, geht heute auf die 83 zu. „Inzwischen schlägt fast nur noch die Biologie zu“, sagt der Dortmunder Oberstaatsanwalt. Bei den Ermittlungen in der Toskana hat die italienische Militärpolizei einige Überlebende aufgespürt. Maaß auch, als er den Recherchen der Italienkorrespondentin der Süddeutschen Zeitung nachging. „Jetzt muss es schnell gehen“, sagt er. „Dann kommt es vielleicht doch noch zu einem Prozess.“

Schnell geht es in der Dortmunder Zentralstelle fast nie. Während seiner gesamten Laufbahn als Oberstaatsanwalt in der Zentralstelle – insgesamt 15 Jahre – hat Maaß drei Fälle zur Anklage gebracht. „Wenig, ne?“ sagt er. „Ein richtig frustrierendes Ergebnis.“ Seine Miene bleibt dabei unbewegt. Er lasse den Frust nicht zu, sagt er, sonst könnte er den Job gar nicht machen. Zwischendurch war er „normaler“ Staatsanwalt, hat Handtaschenraube zur Anklage gebracht, Banküberfälle, „normale“ Morde unter Freunden, Liebespaaren, Verwandten. Morde aus Habgier oder Eifersucht, Morde, die er irgendwann einfach abhaken konnte. Bei den NS-Morden geht das fast nie. Denn selbst die wenigen Anklagen führten nicht alle zum Erfolg.

Da ist das Regalfach Akten mit der Aufschrift „Bikker“. Es versetzt Maaß regelmäßig einen Stich. Herbertus Bikker hatte er schon im Gefängnis gesehen, damals 2002, als „der Schlächter von Ommen“ schon 87 Jahre alt war. Nicht die deutschen Behörden, das Magazin Stern hatte eine Zeugin gefunden, die den Mord des niederländischen Polizeiobersten am Widerstandskämpfer Jan Houtman beobachtete.

Ein Mord unter vielen, aber durch die Zeugin und einen unbedachten Moment Bikkers einer, der auch vor deutschen Gerichten zu einer Verurteilung des Täters hätte führen können. Von den Reportern angesprochen, gab Bikker den Mord sogar zu.

Er hatte Jahrzehnte lang unbehelligt und unerkannt in Hagen gelebt, nachdem er 1952 zusammen mit sechs anderen Kriegsverbrechern aus dem Gefängnis in Breda ausgebrochen war. Verurteilt war er zu lebenslanger Haft, nach Holland abgeschoben wurde er nie, weil er durch einen „Führererlass“ 1943 die deutsche Staatsbürgerschaft erworben hatte und Deutsche nicht abgeschoben werden dürfen. 1957 entschied das Dortmunder Landgericht, alle Ermittlungsverfahren gegen Bikker einzustellen. Er habe „in rechtmäßiger Ausübung unmittelbaren Zwangs gehandelt“, als er die Gefangenen im „Arbeitseinsatzlager Erika“ im niederländischen Ommen quälte.

„Die Stern-Recherchen waren eine große Chance“, sagt Maaß. Dass diese Chance nicht der Verdienst von Staatsanwälten war, findet er normal. „Hier liegen immer hunderte Fälle herum, alle sind wichtig, alle sind dringlich, weil die Täter wegsterben“, erklärt der Oberstaatsanwalt. „Medien sind oft schneller am einzelnen Fall, manche Zeugen melden sich auch eher bei einer Zeitung als bei der Staatsanwaltschaft.“

Verurteilt wurde Bikker jedenfalls nicht. „Die meisten Akten über ihn sind ärztliche Gutachten“, sagt Maaß. Bikker brach im Gerichtssaal spektakulär zusammen. „Er hat mehrere schwere Krankheiten“, sagt Maaß. „Das besagen zumindest die Gutachten.“ Deshalb sei das Verfahren letztendlich eingestellt worden. „Er lebt immer noch“, stellt Maaß fest. „Angeklagt werden kann aber er wohl nie mehr.“

Obwohl er schuldig ist. Eindeutig schuldig. Schuld sieht Maaß oft. Sie bei Nazi-Verbrechen zu beweisen, ist im deutschen Rechtssystem sehr schwer. „Zu schwer“, findet Maaß. „Aber das ändert ja nichts, dass ich das finde.“ Mord ist der einzige Anklagegrund, der auch nach 60 Jahren zählt. Um Mord zu beweisen, muss Maaß beweisen, dass der Angeklagte aus niederen Beweggründen, heimtückisch und besonders grausam gehandelt hat. Zur Zeit versucht er das in 16 Fällen gleichzeitig, alle sind aufwändig. Vor allem die Ermittlungen im Fall des Ende des Jahres entdeckten Massengrabs mit fast 80 Toten im sauerländischen Menden (taz berichtete) kosten Zeit. Einige der Toten waren möglicherweise Opfer eines „Euthanasie-Programms“.

Vernichtung „unwerten Lebens“ oder Mord aus Rassenhass wären Mordmotive, beweisen kann Maaß sie im nachhinein oft allerdings nicht. „Wenn ein Offizier mit zwei Soldaten durchs Krakauer Ghetto geht und alle drei schießen wahllos auf Passanten, dann sagen die Soldaten heute, sie hätten auf Befehl gehandelt und Angst gehabt, sonst selbst erschossen zu werden.“ Für eine Mordanklage reicht das nicht, erklärt Maaß. „Das wäre dann Totschlag und das ist verjährt.“ Dann braucht Maaß Zeugen. Zeugen, die Rassistisches gesehen und gehört haben. Oder Schriftstücke, die geplantes Morden dokumentieren und auch die Verantwortlichen nennen.

Davon gibt es viele. „Die Nazis haben alles akribisch notiert“, sagt Maaß. „Sie haben uns tonnenweise Papier hinterlassen.“ Maaß hat schon viele Namen von potenziellen Mördern auf Papier gelesen. In allen Himmelsrichtungen seines Büros stapeln sich Akten, an den wenigen freien Stellen hängen Landkarten, von der griechischen Insel Kephalonia etwa, zu der auch mehrere Reihen Akten gehören. Oder von der Ukraine. Immer seltener jedoch findet er die Menschen zu den Akteneinträgen. Auf Kephalonia starben mindestens 5.000 italienische Kriegsgefangene, es gibt mehrere hundert Namen möglicher Täter, Maaß hat hunderte Zeugen befragt.

Um Kephalonia zu sehen, muss Maaß seinen Kopf vom Schreibtisch aus nur ein ganz klein wenig drehen. Er holt eine Akte aus einem Griechenland-Regal. „Geschossen haben die Deutschen“, liest er eine Zeugenaussage vor. „Das waren deutsche Wehrmachtsangehörige“, heißt es. „Damit kommt eine ganze Generation deutscher Männer in Frage“, erklärt Maaß. „Für die Zeugen ist das ja auch sehr lange her, jetzt.“ Abgesehen davon, dass sie zur Tatzeit panisch vor einem Massaker flohen und selbst nur mit Glück überlebten. Oder ihre Informationen selbst aus zweiter Hand haben.

Viele Menschen machen Maaß persönlich dafür verantwortlich, dass so viele Verbrechen ungesühnt blieben. „Bestenfalls werfen sie mir schlampige Ermittlungen vor“, sagt Maaß, der sich auch daran gewöhnt hat, dass er Hassbriefe und Anrufe von Rechten wie von Linken kriegt. „Das war seit der Einrichtung der Zentralstelle so.“

Ganz so abgeklärt hat das sein Kollege Klaus Schacht sicher nicht gesehen. Bundesweit forderten Medien 2001 seinen Rücktritt, die damalige NRW-Landtagsabgeordnete Brigitte Schumann (Grüne) stellte Strafanzeige wegen „Verschleppung und Verschleierung der Kriegsverbrechen von Anton Malloth“. Ein Vorwurf, der auch immer wieder im Landtag diskutiert wurde. Zwei Jahrzehnte hatte Schacht gegen den SS-Aufseher des Gestapo-Gefängnisses „Kleine Festung Theresienstadt“ ermittelt. Mehrmals hatte er die Anklage mangels Beweise fallen gelassen. Ein Kollege in München machte irgendwann kurzen Prozess – und brauchte drei Monate, um Malloth hinter Gitter zu bringen. „Da ist plötzlich ein entscheidender Zeuge aufgetaucht“, verteidigt Maaß seinen langjährigen Vorgesetzten noch heute. Und auch die nachfolgende Debatte über die – nachgewiesene – NS-Vergangenheit einiger Ermittler sei „zum Teil widerlich“ gelaufen.

Ulrich Maaß ist für solche Vorwürfe zu jung, er ist ein Nachkriegskind aus Hamm und sagt, dass er bis heute die Taten der Nazis, das Wegschauen der Bevölkerung, das mörderische System nicht begreifen kann. Sein Telefon klingelt, als er das sagt. Ein Archivar aus Detmold, mit dem Maaß inzwischen befreundet ist, weil sie so viel zusammenarbeiten. Wieder gehen Aktennummern und Namen über die Leitung, wieder geht es um Mord. Genauer: ums „pissen gehen“.

Maaß sagt das, ohne die Miene zu verziehen. „Kennen Sie das nicht?“ Pissen gehen, erklärt der Oberstaatsanwalt, hieß bei den Nazis, einem Flüchtenden in den Rücken zu schießen. Wie Felix Fechenbach, einem deutsch-jüdischen Journalisten und Dichter, der 1933 im Kleinenberger Wald zwischen Detmold und Warburg erschossen wurde. Gefangener der Nazis war er zu dem Zeitpunkt schon, ein Gefangener auf dem Weg ins KZ Dachau. Im ostwestfälischen Wald durfte er dann „pissen gehen“. Als er mit dem Rücken zu seinen Aufpassern am Baum stand, schossen sie ihm in den Rücken. Und – „es wurde ja alles notiert“ – notierten: „auf der Flucht erschossen“.

Für Staatsanwälte ist „Pissengehen“ schwer nachzuweisen. „Jetzt gibt es einen vielversprechenden Zeugen“, sagt Maaß. Mehr sagt er nicht, nur den Satz, der ihn dann doch zum normalen Staatsanwalt macht. „Das könnte die laufenden Ermittlungen stören.“ Denn vielleicht leben die Täter ja doch noch.