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Archiv-Artikel

rösingers revue Vom Schmecken und Riechen

Nun ist es also so weit, heute beginnt die 57. Berlinale. Im Eröffnungsfilm, dem französischen Biopic „La Môme – La vie en Rose“, wird das leidenschaftliche Leben der Edith Piaf erzählt. Laut Festivalchef Dieter Kosslick ein Film zum Mitsingen, über eine Frau, die ein weitaus wilderes Leben als Uschi Obermayer gehabt haben soll.

Bei den Wettbewerbsfilmen lässt sich im Vorfeld natürlich noch kein besonderer Trend ausmachen. Stark vertreten ist der französische Film, aber auch der amerikanische Independent Film soll zurückgekehrt sein. Beim Panorama geht es dieses Jahr um jugendliche Identitätsfindung und Staatsparanoia. Aber viel eigentlicher geht es bei diesem Filmfest doch hauptsächlich um die schwierigen Identitätsfindungen prominenter Schauspieler. Immer mehr Darsteller scheinen sich in ihrem Metier nicht so recht glücklich, ja direkt unausgefüllt zu fühlen. Deshalb wohl sind sie unter die Regisseure gegangen und stellen ihre Filme dann auf der Berlinale vor. Clint Eastwood hat damit angefangen, Steve Buscemi, Antonio Banderas, Julie Delpy, Sarah Polley, Willem Dafoe und Robert De Niro machen es ihm schamfrei nach.

Neu ist die Reihe „Kulinarisches Kino: Eat, Drink, See Movies“. Das bedeutet wohl nichts anderes, als dass man die Kochshowpest Kerner’schen Unformats vom Fernsehen auf das Festival übertragen hat. Nach dem Angucken von Filmen zu kulinarischen Themen wird Alfred Biolek im Spiegelzelt am Gropiusbau mit Experten essen und über Genuss und Slow Food parlieren. Warum auch nicht? Ein Filmfestival ist doch auch immer ein Spiegel der Gesellschaft. Und die Fernsehkochshows wurden von Soziologen längst als Abgrenzungsritual des Bildungsbürgertums zur Unterschicht erkannt.

Man konnte ja schon bei den Pressevorführungen Ende Januar beobachten, wie auch unter den Filmjournalisten immer mehr das Gespenst der Prekarisierung umhergeht. Ganz neue Geruchsbelästigungen vom Vordermann und der Nebenfrau musste man da hinnehmen, weil die schon früh um zehn Uhr ganz grob zusammengesäbelte Wurstbrote mit zentimeterdicker fetter Salami auspackten und drauflos vesperten! Hat denn keiner mehr wenigstens das Geld, um sich irgendwo ein geruchsneutral cellophaniertes Sandwich zu holen? Auch waren die Vor-Vorstellungen stets überfüllt, was nicht nur dem Interesse am Film, sondern einer allgemeinen Mitnahmementalität geschuldet sein könnte: Wenn’s umsonst ist!

Ja, eine gewisse Verelendung lässt sich doch allgemein beobachten, missgünstige Blicke, Verteilungskämpfe – überall geht es noch ein wenig erbitterter, rücksichtsloser zu. So standen die prekarisierten Massen bei der Berlinale-Pressekonferenz am Reichstagsufer demütig stundenlang wegen Sponsoren-Lippenstiften und USB-Sticks an. Bei der Ausgabe der sehnsüchtig erwarteten Programmhefte schienen die Übergänge Drängelei/Rempelei/Rangelei fließend. Eine Welle des Sozialneids überflutete die Pressekonferenz, als Dieter Kosslick den diesjährigen Sponsorenschal in der Berlinale- Modefarbe „Mauve“ vorstellte. Die brenzlige Situation ließ sich nur mit dem generösen Verteilen von fair getradeter Ökoschokolade abwiegeln.

Aber es gibt auch jetzt schon Positives zu berichten: Ein weiteres Berlinale-Zentrum ist am Alexanderplatz entstanden. Das dortige Cubix-Kino, ein Multiplex des Grauens an einem der sonst schönsten Plätze Europas, soll mit drei Sälen zum Anziehungspunkt der Festivalbesucher werden. Wie schön, dass ab heute dieser leere, wüste Ort zwischen der Szenekneipe „Besenkammer“ und den benachbarten Bauzäunen, wo sich unter faulenden Bretterstapeln die Ratten gute Nacht sagen, ein wenig durch herumirrende Cineasten belebt wird! CHRISTIANE RÖSINGER