: Ist Italien noch zu retten?
ITALIEN Das Land stand für die Deutschen für Lust und Sinnenfreude. Heute herrschen Lustgreise und Sinnlosigkeit
Der Fotograf Nicola Okin Frioli hat den Bademeistern von Rimini ein Denkmal gesetzt. Einst, als Italien noch Touristenhochburg war, eine Wundertüte voller Überraschungen für sonnenentwöhnte Deutsche, waren sie echte Autoritäten. Toll sehen sie immer noch aus.
VON MICHAELA NAMUTH
Vergangenen Herbst stürzten in Pompeji die ersten Mauern ein. Reporterbilder zeigten, dass gut genährte Rattenfamilien und wucherndes Unkraut die antike Römerstadt fest im Griff haben. Europa tat entsetzt, als habe bislang niemand bemerkt, dass in Italien vieles morsch ist. Kulturminister Sandro Bondi ist nach dem Pompeji-Skandal nicht zurückgetreten. Im Gegenteil: Wie der Staatschef klebt auch er fest an seinem Sessel.
Derweil bröckeln die antiken Gemäuer weiter in Pompeji, die zum Weltkulturerbe der Unesco gehören. Ein paar Holzbalken stützen sie notdürftig. In Italien stehen 44 der von der Unesco geschützten Schätze der Menschheit, so viele wie in keinem anderen Land der Welt. Das ist eine große Chance für den Tourismus, doch die Regierung des Medienmilliardärs Silvio Berlusconi hat kein Geld, das Kulturgut zu pflegen. Stattdessen werden an naturgeschützten Stränden neue Villen hochgezogen. Die Prominenz braucht plebsfreie Partyzonen. Der 75-jährige Premier und seine Freunde sind es leid, dass bei ihren Pornofeten „Kommunisten und Staatsanwälte durch das Schlüsselloch spionieren“.
Wo die Strände zuzementiert werden, bleiben die Reisegäste aus, die sauberes Wasser, weiße Sandstrände und eine intakte Natur schätzen. Die Umsätze der Tourismusbranche sind schon eingebrochen. In den ersten drei Quartalen des vergangenen Jahres sind 2,3 Prozent weniger Ausländer angereist als im Vorjahr, 20.000 Arbeitsplätze wurden vernichtet. Dabei hätte gerade der Süden, wo jeder zweite Jugendliche arbeitslos ist, den Tourismus bitter nötig. Doch wo Zementskelette an der Küste stehen, wo die Camorra Dioxinfässer lagert und wo der Müll zum Himmel stinkt – auch wenn er noch so blau ist –, will keiner Urlaub machen. Die Hotelpreise in den Südregionen sind in den Keller gesunken, die Zimmer bleiben dennoch leer.
Einer, der bei diesem Wahnsinn nicht mitgemacht hat, war Angelo Vassallo, Bürgermeister von Pollica. Der Ort liegt nicht weit von Pompeji entfernt, im süditalienischen Cilento, wo sich die Deutschen von jeher gern an den langen Sandstränden tummeln. Vassallo, der aus einer Fischerfamilie stammt, hat ungenehmigte Bauten gestoppt oder abreißen lassen, die Abflüsse ins Meer kontrolliert und den biologischen Anbau gefördert. Er war Vizepräsident von Cittàslow, einem Netzwerk von Kommunen und Städten, die sich die Verbesserung der Lebensqualität zum Ziel gesetzt haben. Er hat sich dafür engagiert, dass die Mittelmeerküche in die Liste des immateriellen Kulturerbes der Unesco aufgenommen wurde. Dank seines Widerstands gegen die Bauspekulation sind die Grundstücke in seiner Kommune heute mehr wert als in den verbauten Nachbarorten und die kleinen, aber feinen Hotels und Pensionen meist ausgebucht.
Vassallo wurde im September 2010 in seinem Auto erschossen. Bis heute wurden die Täter nicht gefasst. Der Bürgermeister war nicht nur der Mafia ein Dorn im Auge, sondern er war ein Fremdkörper im politischen System von Korruption und Machtmissbrauch. Auch seine eigene Partei, der linksreformerische Partito Democratico, hat ihn nicht hochkommen lassen.
Denn das Italien von Berlusconi & Co. ist nicht mehr das Land von Pinocchio, wo den Lügnern lange Nasen und den Dummen lange Ohren wachsen. Die Eselsohren wachsen nur denen, die die Wahrheit sagen. Weil sie so dumm sind, werden sie ausgeschlossen vom Spiel, in dem man alles kaufen kann: Wählerstimmen, Abgeordnete und natürlich Frauen. Doch Letzteren ist jetzt der Kragen geplatzt. Sie demonstrieren in allen Städten gegen den „alten Schweinigel“.
Seine Exfrau kritisierte, dass einige der Gespielinnen des Premiers jetzt im Parlament sitzen und über die Zukunft des Landes entscheiden. Die Italienerinnen, deren Beschäftigungsquote von 46,4 Prozent in Europa nur noch von Malta unterboten wird, haben es jetzt satt, statt – wie von der Verfassung vorgesehen – in einer Republik der Arbeit in einer „Republik der Hurerei“ zu leben. Die Zustände im Land übertreffen sogar Pier Paolo Pasolinis prophetische Analyse der italienischen Gesellschaft. Er schrieb 1974: „Der Zwang zum Konsum ist ein Zwang zum Gehorsam gegenüber einem unausgesprochenen Befehl.“ Dieser Befehl wird heute direkt vom Staatschef ausgegeben, der private und staatliche Fernsehsender, den größten Verlag Italiens, Filmproduktionen, Banken, Versicherungen und Tele- und Onlineshops besitzt. Seine tägliche Show, ob mit oder ohne Billigharem, hat nur eine Botschaft: Konsumieren macht glücklich.
Das glauben viele Italiener und Italienerinnen auch – obwohl sie dafür immer weniger Geld in der Tasche haben. Dass dabei aber ihre gut ausgebildeten und arbeitslosen Töchter zusehen sollen, wie man schnell ein paar tausend Euro verdienen kann, wenn man sich von einem lächerlichen Minotaurus verschlingen lässt, geht vielen katholischen Müttern nun doch zu weit. Deshalb haben sie sich mit anderen Frauen zusammengetan, die gegen das von der Regierung kolportierte Kulturmodell protestieren.
Eine von ihnen ist Franca Rame, Lebens- und Arbeitsgefährtin des Nobelpreisträgers Dario Fo, der im italienischen Fernsehen Auftrittsverbot hat. Sie erntete bei einer Demonstration der Frauen in Mailand großen Applaus, als sie sarkastisch feststellte: „Berlusconi liebt die Frauen, vor allem ohne Slip und BH.“ Im Publikum stand der Klempner Mario, der einen besonderen Luftballon umklammert hielt: ein aufgeblasenes Schwein mit drei Hühnern.
Doch das kümmert Berlusconi wenig. In anderen europäischen Ländern müssen Minister zurücktreten, wenn sie dabei erwischt werden, dass sie auf Staatsreise Pornovideos ausleihen. Im Land des Papstes hat der Staatschef Narrenfreiheit. Schließlich richtet er ja auch alles wieder. Nach dem Skandal um Pompeji hat Berlusconi bewiesen, dass er nicht nur an Pornopartys, sondern durchaus auch am Erhalt antiker Schätze interessiert ist. Kulturminister Bondi hat auf sein Geheiß die Marmorgruppe im Regierungspalast verschönern lassen. Die Göttin Venus hat endlich eine neue Hand, der Gott Mars einen ordentlichen Penis bekommen. Die Schmerzensschreie der Restauratoren, die darauf hinweisen, dass man seit 100 Jahren keine fehlenden Teile an antike Skulpturen mehr ansetzt, verhallen ebenso am dicken Fell des Ministers wie die Kritik, dass man die 70.000 Euro, die das Späßchen gekostet hat, in Pompeji dringender benötigt hätte.
Dort sind Ratten und Unkraut längst wieder unter sich. Der Kulturminister wartet nun auf die 30 Millionen Euro, mit denen die EU Italien zu Hilfe eilt. Denn zumindest Pompeji soll gerettet werden.