PRESS-SCHLAG
: Gnadenlos gnädig

STRAFSTÖSSE In der Bundesliga werden ungewöhnlich viele Elfer verschossen. Dennoch müssen die Übeltäter immer wieder ran

Diese wundersame Bundesligasaison stellt selbst die erfahrensten Analysten vor immer neue Rätsel. Selbst bei den scheinbar selbstverständlichsten Angelegenheiten gerät althergebrachtes Wissen ins Wanken. Elfmeter, das ist statistisch eigentlich nachweislich belegt, führen recht zuverlässig zum Torjubel. Um genauer zu sein: in etwa 80 Prozent aller Fälle. Doch in dieser Spielzeit nähert sich der aktuelle Wert (ca. 60 Prozent) rapide der 50-Prozent-Marke an. Eine solch geringe Trefferquote hat es im ganzen letzten Jahrzehnt nicht gegeben. Sowohl die Elfmeterforscher – ja, so etwas gibt es – als auch die Aktiven selbst sind völlig ratlos, weshalb die vermeintlich leichteste Übung eines Fußballprofis plötzlich zur Fifty-fifty-Chance zu werden droht.

Rational ist diesem Phänomen nicht beizukommen. Aus den Zahlen lässt sich keine überzeugende Hypothese bilden. Ein Blick auf die Protagonisten dagegen offenbart einen außergewöhnlichen Trend. Viele Fehlschützen werden nur dank ihrer großzügigen Trainer zu Wiederholungstätern. Nuri Sahin von Borussia Dortmund verschoss am Samstag bereits seinen vierten Elfer hintereinander. Der Wolfsburger Diego hat in dieser Saison eine hundertprozentige Fehlerquote aus der Elfmeter-Distanz vorzuweisen. Zwei Versuche, kein Tor. Und dennoch kündigte seinerzeit der mittlerweile entlassene Trainer Pierre Littbarski an, dass der Brasilianer selbstverständlich auch künftig die Strafstöße schießen werde. Papiss Demba Cissé vom SC Freiburg darf sich ebenfalls immer wieder neu versuchen, obwohl er nur jedes zweite Mal erfolgreich ist.

Auf den ersten Eindruck scheinen sich ethische Grundsätze wie „die Chance auf Vergebung und zum Neuanfang“ bei der Bundesligatrainergilde zu etablieren, wo doch noch vor nicht allzu langer Zeit über den unmenschlichen Druck in der Liga räsoniert wurde. Der Dortmunder Coach Jürgen Klopp hat es Nuri Sahin offenbar nicht einmal verübelt, dass der vergangene Saison am vorletzten Spieltag mit seinem vergebenen Elfmeter die Champions-League-Träume des Vereins zerstörte. Hört man jedoch genauer hin, dann verflüchtigt sich der Eindruck der gesteigerten Mitmenschlichkeit. Klopp begründete am Samstag seine Beharrlichkeit bei der Wahl des Elfmeterschützen damit, er habe keinen im Team gesehen, der im Training öfter als Sahin Strafstöße geübt hätte. Als wüsste er nicht genau, warum. Geradezu erleichtert klang deshalb das Fazit von Sahin, nach seinem vierten Fehlversuch habe sich wohl die Geschichte mit den Elfern erledigt. Auch Diego hat Anlass zur Hoffnung, von der Angst vor dem nächsten Elfmeter von seinem neuen Trainer Felix Magath befreit zu werden. Nur Cissé muss wohl oder über bald wieder an den Punkt. JOHANNES KOPP