: Die schwarze Seele Italiens
Der italienische Krimiautor Carlo Lucarelli über Mafia, Verbrechen und den perfekten Tatort: seine heiß geliebte Heimatstadt Bologna. Eine Stadt, über die man gute Geschichten erzählen kann. Ein Laboratorium, in dem seltsame Dinge geschehen
VON MICHAELA NAMUTH
taz: In Ihren zahlreichen Romanen und Fernsehreportagen geht es meist um die düsteren Aspekte Ihres Landes und Ihrer Landsleute. Warum interessiert Sie die dunkle Seite Italiens so sehr?
Carlo Lucarelli: Im Gegensatz zu anderen Ländern gibt es in Italien eine dunkle Seite, die sich ganz materiell ausdrückt. Das ist eine ökonomische und politische Macht, die in dieser Form in keinem anderen europäischen Land existiert: die Mafia. Dieses Thema wird im Ausland oft folkloristisch behandelt. Das ist falsch. Die Mafia hat unsere Politik, unsere Wirtschaft und unsere Geschichte beeinflusst. Sie ist ein Tumor, der im Dunklen immer weiter wuchert. Andere Elemente unserer Schattenseite haben mit unserer jüngsten Geschichte zu tun: Terrorismus von links und rechts, Staatsterrorismus und nie aufgeklärte Verbrechen wie das Flugzeugunglück von Ustica oder der Mord am Schriftsteller Pier Paolo Pasolini. Die Mafia ist ein Tumor, aber diese andere dunkle Seite ist ein Gift, dass Italien zersetzen kann.
Das klingt wie eine schwere Last, die die Italiener heute zu tragen haben. In der Tat widerlegen aktuelle Umfragen das Klischee vom frohgemuten und einfallsreichen Mittelmeervolk. Glaubt man den Statistiken, so hat keine andere Nation in Europa so viel Zukunftsangst wie die Italiener.
Das Bild vom leichtlebigen Mittelmeervolk ist natürlich nicht vollkommen verkehrt. Die Leichtigkeit des Seins und die Kunst des Überlebens sind noch immer zwei Disziplinen, die wir besser beherrschen als andere. Im Moment leiden wir aber unter einer Verarmung an Kultur und an Werten. Das macht sich auch im Alltagsleben bemerkbar. Die Leute sind gestresst und aggressiv und bringen auch schon mal den Nachbarn um, weil er zu laut ist.
Gibt es auch gute Neuigkeiten aus Italien?
Ja, natürlich. Es hat sich in den letzten Jahren ein Bürgerbewusstsein entwickelt, das es früher nicht gab. Heute gibt es eine Anti-Mafia-Bewegung, die viele unterstützen. Wir sind dabei, uns von der düsteren Seite zu befreien. Deshalb können wir optimistisch sein.
In fast all Ihren Krimis ist der Tatort Bologna. Was ist das Besondere an dieser Stadt?
Bologna ist meine Stadt, die Stadt, die ich am besten kenne. Über Bologna kann man gute Geschichten erzählen. Sie ist wie ein Laboratorium, in dem seltsame Dinge geschehen. Einerseits ist es eine Stadt mit hoher Lebensqualität, die traditionell von einer roten Kommunalverwaltung regiert wird. Andererseits ist es die Stadt der Bande des Uno Bianco: eine Gruppe krimineller Polizisten, die jahrelang die Stadt terrorisiert hat. Das hat es nirgendwo anders gegeben. Hier haben die Rechtsradikalen 1980 auch einen Anschlag auf den Bahnhof verübt, bei dem 85 Menschen ums Leben gekommen sind und über 200 verletzt wurden. Das ist eine ganz finstere Seite. Bologna lebt von Widersprüchen. Dafür gibt es auch ein architektonisches Symbol, das zugleich ein klassisches Element der Kriminalliteratur ist: die Bogengänge, die das gesamte historische Zentrum verbinden. Der brave Bürger fühlt sich unter den Bögen beschützt, gleichzeitig können hier aber auch viele heimliche und unheimliche Dinge geschehen. Bologna ist eine Stadt, die gleichzeitig schützend und bedrohlich wirkt. Für einen Krimischreiber ist das eine fantastische Sache.
Gibt es bestimmte Zutaten, die einen guten Kriminalroman ausmachen?
Wir, das heißt die Kolleginnen und Kollegen vom Gruppo 13, haben darüber lange nachgedacht und diskutiert und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass es kein Rezept gibt. Das einzig Wichtige ist ein Geheimnis, das langsam aufgedeckt wird. Man muss eine Geschichte erzählen, von der man nicht weiß, wie sie endet. Den Rest kann jeder selbst entscheiden.
Die italienischen Krimiautoren Ihrer Generation waren die ersten in Italien, die ihre Storys systematisch in einen sozialen Kontext gestellt haben. Das haben die Skandinavier schon in den 70er-Jahren gemacht. Warum ist Italien so spät dran?
Diese Tradition kommt in der Tat aus dem Norden. In Italien gab es aber auch ein paar Beispiele wie Loriano Macchiavelli, dessen Romane im Bologna der 70er-Jahre spielten. Es ging um die APO, Polizisten, Bomben etc. In Spanien gab es in den 80er-Jahren Montalbán. Heute haben in Italien fast alle Krimis einen politisch-sozialen Hintergrund.
Sie waren nie ein Einzelgänger und haben sich immer mit anderen Krimiautoren aus der Region Emilia-Romagna in regelmäßigen Abständen zum Reden und Pastakochen getroffen. Damals nannten Sie sich noch Gruppo 13. Was ist daraus geworden?
Gruppo 13 existiert heute nicht mehr. Wir sind zu viele geworden, um uns noch am Küchentisch zu treffen. Aus der Gruppe ist jetzt ein Krimischreiberverein geworden, der erste dieser Art in Italien. Was geblieben ist, ist die Gewohnheit, sich zu treffen und über Projekte, Probleme, Verleger und alles mögliche zu reden. Das Zentrum dieser Bewegung ist natürlich Bologna.