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Archiv-Artikel

Das Grauen vor dem Morgen

Von der Selbstzerfleischung zur Selbstenthauptung: die Krise der Hamburger SPD

Aus HamburgSven-Michael Veit

Das Grauen endete, kurz bevor der Morgen graute. Gestern früh um kurz nach 4 Uhr verkündet der Hamburger SPD-Vorsitzende Mathias Petersen die Demission der gesamten Parteiführung. „Der Landesvorstand übernimmt die politische Verantwortung und tritt geschlossen zurück“, gibt er im Foyer der Parteizentrale hinter dem Hamburger Hauptbahnhof nach einer achtstündigen Krisensitzung des Gremiums bekannt. Auf einem Parteitag Ende März solle ein neuer Vorstand sowie der oder die SpitzenkandidatIn für die Bürgerschaftswahl in einem Jahr gewählt werden. Allerdings: Zu der Wahl im Februar 2008 gegen CDU-Titelverteidiger Ole von Beust braucht die SPD nach Ansicht vieler politischer Beobachter jetzt gar nicht mehr anzutreten.

Es ist die erwartete Nacht der langen Messer im Kurt-Schumacher-Haus. Es ist eine kalte Nacht unten im zugigen Foyer, wo die vollständig versammelte Garde der Hamburger Politreporter sich die Zeit vertreibt; es ist eine heiße Nacht im großen Konferenzsaal im ersten Stock, wo derbe Worte fallen. Erst nach zermürbenden Debatten, in denen keines der beiden verfeindeten Lager im Parteivorstand als Erstes zum Rückzug blasen mochte, steht das Ergebnis fest: Die SPD macht den Weg frei für einen personellen Neuanfang.

Er freue sich, „dass der Landesvorstand in dieser schwierigen Situation die Kraft hatte, zu einem einstimmigen Beschluss zu kommen“, kommentiert Hubertus Heil, Generalsekretär der Bundes-SPD, das Resultat mit Worten, die als blanke Ironie ausgelegt werden könnten. Seit Montagabend hatte er im Auftrag des SPD-Vorsitzenden Kurt Beck auf die verfeindeten Genossen an der Elbe eingeredet wie auf bockige Kinder: Einzeltherapie für Petersen und seine Stellvertreterin Dorothee Stapelfeldt, die um die Spitzenkandidatur ihrer Partei miteinander konkurrierten, Gruppensitzungen für die sieben einflussreichsten Mitglieder des 24-köpfigen Landesvorstandes. Heil hatte direkt vor der entscheidenden Nachtsitzung deutlich gemacht, was die Bundespartei verlangt. Die Krise müsse „zügig gelöst werden“, dabei komme den KontrahentInnen Petersen und Stapelfeldt eine „besondere Verantwortung“ zu: „Wir erwarten, dass sie dieser Verantwortung durch ihr Handeln gerecht werden.“

Ende Januar hatte der Parteivorstand, ebenfalls nach stundenlanger nächtlicher Krisensitzung, Petersen wegen politischer Alleingänge das Misstrauen ausgesprochen. Der aber wollte weder als Vorsitzender zurücktreten noch seinen Anspruch auf die Rolle als Bürgermeisterkandidat der SPD aufgeben. Also mussten er und Stapelfeldt, die seinerzeit zu mitternächtlicher Stunde ihren Hut in den Ring geworfen hatte, sich einer Mitgliederbefragung unter den 11.500 GenossInnen stellen. Zwei Wochen lang tingelten sie im Februar auf Hearings vor der Basis, und als am vorigen Sonntag die Voten ausgezählt wurden, fehlten 959 Stimmzettel.

Sie waren in der Parteizentrale auf noch immer ungeklärte Weise aus der Urne mit den Briefwahlstimmen verschwunden. Staatsanwaltschaft und Landeskriminalamt ermitteln seit Montag, zwei Räume in der Geschäftsstelle wurden versiegelt, die Urne kriminaltechnisch untersucht. Bislang ohne Ergebnis. Ergebnislos blieb auch die Wahl, denn die Auszählung war wegen der Manipulation abgebrochen worden und damit ungültig.

Heimlich allerdings wurden die vorliegenden Stimmzettel nächtens doch ausgezählt. Das inoffizielle Resultat lautet 2.780 Stimmen für Petersen, 1.730 für Stapelfeldt. Das sei illegal gewesen, befindet der Justiziar der Bundespartei, und stelle „einen schwerwiegenden Verstoß gegen die innerparteiliche Ordnung dar“. Petersen kümmerte das nicht: Am Montag erklärte er sich zum gefühlten Sieger.

Während des Dramas vorerst letzter Akt in der Parteizentrale eskaliert, erwägen und verwerfen die Journalisten im Erdgeschoss die personellen Alternativen. Bundesfinanzminister Peer Steinbrück, ein gebürtiger Hamburger? So blöd ist der nicht. Der Geschäftsführer der Bundestagsfraktion und ehemalige Hamburger SPD-Chef Olaf Scholz? Nee, der will höhere Weihen in Berlin. Gitta Trauernicht, Ministerin in Kiel, zuvor in Hannover und in den 90er-Jahren Staatsrätin Hamburg? Könnte ein Tipp sein. Exbürgermeister Henning Voscherau, der sich regelmäßig als Souffleur der Springer-Presse in der Hansestadt zu Wort meldet?

Erst am frühen Morgen gibt Petersen, den seine Gegner für autistisch halten, dessen Freunde hingegen seine Nehmerqualitäten rühmen, auf. Aber auch nur, weil der gesamte Vorstand ebenfalls zurücktritt. Die Zyniker in Partei und Presse glauben an eine Fortsetzung auf dem Parteitag am 24. März. Dass Petersen dort wieder für Amt und Würden kandidiert, sei nicht auszuschließen.