: Mal mit den Ohren betrachtet
HÖRBILDUNG Eine Anregung zum kreativen Hören – die Neuköllner Musikschule und Hörgalerie Ohrenhoch
VON TABEA KÖBLER
„Wir sind eingebettet in einem reichhaltigen, faszinierenden, aber auch unheimlichen Klanguniversum“ steht auf einem Zettel an der Wand. Überall in den Räumen des Ohrenhoch flüstert und knurrt es aus versteckten Lautsprechern und Kopfhörern. Sich umzusehen, hilft hier nicht allzu viel. Das Besondere des Ortes in der Neuköllner Weichselstraße findet nur, wer sich umhört.
2008 hat Knut Remond die etwas andere Musikschule und Hörgalerie namens „Ohrenhoch, der Geräuschladen“ ins Leben gerufen. Einmal die Woche trifft der studierte Schlagzeuger und Komponist aus Basel hier die Ohrenhoch-Kids oder die Ohrenhoch-Youngster.
Die „Kids“, zwischen sieben und elf Jahren, sind derzeit zu viert und kommen aus der Neuköllner Nachbarschaft. Gemeinsam experimentieren sie mit Mikrofonen, Tonbandgeräten, Synthesizern oder Computern. Bei schönem Wetter sammeln sie gern Geräusche auf Spaziergängen. Mit dem PC oder Effektgeräten können sie die Aufnahmen arrangieren oder bearbeiten und dabei beobachten, wie sie sich verwandeln. Spielerisch lernen sie Aufmerksamkeit für alles Klingende in der Welt zu entwickeln. Sie hören auf der Straße genauer hin, können Klänge besser erkennen und bezeichnen manches Geräusch nicht mehr als Lärm.
Inspirationsquelle der Gruppe ist das Experiment. „Meistens entsteht eine Erfindung, indem wir einen Sound machen, und dann fällt irgendeinem irgendwas ein“, erklärt Yuri. Und auch Elias meint: „Die meisten Erfindungen entstanden wie aus dem Nichts.“
Die Ideen der Kinder wachsen zu Projekten und werden in Klangcollagen, Hörspielen, Klangskulpturen oder Videos umgesetzt. Anlässlich der Kunstfestivals im Viertel wie 48 Stunden Neukölln werden sie dann öffentlich präsentiert. Manch ein Besucher staunte schon über die Urheber der Werke: „Es war oft witzig, dass die Erwachsenen gar nicht verstehen, dass das Kinder sind“, lacht Remond.
Zuletzt haben die Ohrenhoch-Kids über eine Abwandlung ihrer Raumklanginstallation „Nachtaktiv“ nachgedacht. Sie besteht aus etwa siebzig kleinen Eigenkompositionen, die Geräusche nachtaktiver Tiere nachahmen. Sie entstanden am Computer durch das Verfremden anderer Klänge: das Plätschern eines Strohhalms im Glas verwandelte sich so in den Ruf eines Vogels. Die einzelnen Stücke erklingen sich überlagernd aus im Raum verteilten Lautsprechern und verweben sich zu einer Klanglandschaft, durch die man wandern und in jeder Ecke immer neue Tiere entdecken kann.
Auch eines ihrer Lieblingsprojekte mit dem Titel „Superfrösche & Kröten Music“ möchten die Ohrenhoch-Kids bald noch einmal vorstellen. Es war das Ergebnis eines Ausflugs ins Museum für Naturkunde, wo ihnen ein Amphibienspezialist Aufnahmen der verschiedensten Frösche und Kröten vorspielte. Am Ende durften sie ihr Lieblingsquaken mitnehmen. Im Ohrenhoch erschufen sie zusätzlich Fantasieamphibiengeräusche und vermischten diese mit den echten.
Nächste Gelegenheit zu einer Präsentation bietet sich im Oktober auf dem Sinuston Festival im Rahmen der 5. Magdeburger Tage der elektroakustischen Musik. Dort ist auch die Aufführung von John Cages „33 1/3“ geplant – ein Stück das entsteht, indem alle Anwesenden, also auch das Publikum, gleichzeitig eine möglichst große Anzahl möglichst unterschiedlicher Schallplatten auf mehreren bereitgestellten Plattenspielern abspielen. Es ist das erste Stück eines anderen Komponisten, das sie je eingeübt haben. „Die Ohrenhoch-Kids sind heute zu einem richtigen Ensemble zusammengewachsen“, sagt Remond lächelnd. Dazustoßen darf jeder. Die wöchentlichen Treffen sind kostenlos und erfordern keinerlei musikalische oder technische Vorkenntnis.
Soundart am Sonntag
An Sonntagen wird das Ohrenhoch als wachsende Plattform für elektroakustische Musik und Soundart zur Hörgalerie. Die abgetretenen Stufen in den Keller hinunter führen dann in Sphären weit entfernt von der Alltagswelt vor der Tür. Nur über die Ohren orientiert man sich durch die sich im Raum bewegenden Geräuschklänge und findet an den weißgetünchten Mauerwänden Projektionsflächen für die Bilder der eigenen Fantasie.
Diesen Sonntag wird „Touch“ zu hören sein, eine Audiocollage der kalifornischen Künstlerin Margaret Noble. Durch das Nebeneinander von Geräuschen, die in der Umwelt nie gemeinsam erklingen würden, stiftet sie Verwirrung. Immer wieder dreht man sich unwillkürlich um, wenn ein Knacken oder Ratschen im Rücken erklingt. Man wähnt sich eben noch auf einer Autobahn und steht plötzlich in einem trockenen Regen.
Die – wie auch Margaret Nobles Beitrag – meist eigens für den Laden geschaffenen Kompositionen internationaler Künstler werden im Keller als Loop abgespielt. Remond hat sich bewusst gegen Liveauftritte im Ohrenhoch entschieden. „Ich wollte eine Klang- oder Soundgalerie, die wirklich auf das Hören fokussiert ist, wobei das Konzertmäßige wegfällt.“
In einer sonst von visueller Wahrnehmung dominierten Gesellschaft leistet Remonds kleiner Laden einen Beitrag zur Sensibilisierung des Hörens und ermöglicht so, durch die Ohren gesehen, einen neuen Blick auf die Welt.
■ „Touch“ von Margaret Noble ist am Sonntag (14–21 Uhr) im Ohrenhoch, Weichselstraße 49, zu hören
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