die malerpoetin Aldona Gustas wird 75 : „Wenn Engel Zeitschub einräumen“
Berlin, das ist sowohl Fluchtpunkt als auch Fixpunkt für Aldona Gustas. „Die Stadt hat mich umarmt“, sagt die in Litauen geborene Lyrikerin. Das war, als sie im Krieg nach langer Flucht endlich hier ankam. Dass die Arme der Stadt, die die damals 13-Jährige umfassten, mit Brandmalen, mit Schutt, Asche und Rauch tätowiert waren, störte sie nicht. Sie fühlte sich aufgenommen, selbst von Ruinen. Nach dem beschwerlichen Weg aus Litauen, den sie mit ihrer Mutter und ihrem Bruder auf Pferdewagen und zu Fuß erlebte, wurde ihr eine Stadt zur Heimat, die nie den Anspruch hatte, ein Paradies zu sein. „Berlin ist kein Schlaraffenland, aber inwendig ist es mir ein Dorado“, sagt die Lyrikerin, die heute 75 Jahre alt wird.
Im Dezember kam ihr „Berliner Tagebuch“ im Eremiten Verlag heraus. Mit Worten, so flüchtig wie Nebel, zieht sie dabei durch Berlin und erlaubt sich die Freiheit, in dieser am Ende einfach gestrickten Metropole die ganze Welt zu entdecken. Wien, Venedig, Vilnus, die Wüste. Florenz auch, obwohl: „Volterra wäre mir lieber.“ Natürlich auch „den Eiffelturm in Berliner Manier“. Sie grüßt in jedem Gedicht einen Flecken der Welt und bleibt dennoch nah am „Tiergartengrün“, am „Spreegut“, am „Alexmenschen“. Solche Worte findet sie.
Und solche Bilder: „in Arkadien / soll es schneien / hier am Alex / hagelt es wie in Polen / flüchten wir / unter ein Dach / höre ich Chopins Herz / in Warschau schlagen / wenn Engel / Zeitschub einräumen / bleibe ich hier / bis es tagt“.
In Berlin und in ihrer Lyrik kennt Gustas keine Grenzen. Dies macht es ihr möglich, die wirklichen Begrenzungen im Leben zu ertragen. Denn die Poetin macht etwas, das nahezu unmöglich scheint: Sie lebt von dem, was ihre Kunst einbringt.
Als Gustas im Krieg ihre Heimat verlässt, hat sie einzig die Poesie im Gepäck. Das sei, was ihr vom Litauischen geblieben ist. „In Litauen gehört Poesie in die Küche, das Wohnzimmer, das Schlafzimmer.“ Ihre Gedichte sind bilderreich, ihre Sprache auf einen Atemzug reduziert. Wie ihre Biografie: „ich war lange 1932 / ich war lange 1945 / ich war lange 1952 / ich war lange 1962 / ich war lange 1972 / in den Jahren dazwischen / lebte ich kurz“.
So sehen die Zäsuren in ihrem Leben: 1932, klar, kommt sie zur Welt, 1945 kommt sie nach Berlin. 1952 heiratet sie. Aber nur, weil der Mann keine Kinder will. „Ich mag keine Familiengeschichten. Ich finde das penetrant.“ 1962 kommt ihr erster Gedichtband heraus. Bald danach fängt sie an zu malen und gründet 1972 die Gruppe „Berliner Malerpoeten“. Dazu gehören Günter Grass, Kurt Mühlenhaupt,Wolfdietrich Schnurre. Schriftsteller, die auch malen; Maler, die schreiben.
Gustas ist die einzige Frau der Gruppe. Im Gegensatz zu den Männern ist sie nie berühmt geworden. Das sei, weil sie Gedichte schreibe. Aber solange sie einen weiten Blick habe, könne sie mit der Reduzierung leben. Sie zelebriert das Spartanische. In Gedichten setzt sie nie ein Komma, einen Punkt. „Das käme mir vor wie Stottern.“ Waltraud Schwab