Die heilige Kochschrift

Der „Silberlöffel“ aus Italien ist zurzeit der Star unter den Kochbüchern. Zugleich ernähren sich auch Deutsche immer mehr von Fertiggerichten. Wie passt das zusammen?

VON JAN FEDDERSEN

Neulich bei Tommi lag es auch, ein Geschenk seiner Mutter Edith zum Weihnachtsfest. Eine freundliche Geste an den neuen Mann in ihm, aber auch eine Mahnung, Nahrungsfragen nicht als nebensächlich zu nehmen. Doch an diesem Abend, dem ersten nach erfolgreich bestandener Probezeit, muss er sich aufs Catering verlassen, „asiatisch und leicht, nicht mal teuer“. Dass er sich selbst auf all die Rezepte des Präsents nicht einließ, das, räumt der junge Werbekaufmann mit sacht zerknirschter Stimme ein, „sei Zeitnot pur“ gewesen. Aber er habe sich mächtig über das Geschenk gefreut.

Auch Hannahs Exemplar hat seine Bewährung noch vor sich, es sieht ein wenig verstaubt aus. „Ist doch Winter, da gibt es keine frischen Zutaten“, sagt sie und beißt in ihren Toast, belegt mit Schinkenröllchen, aus deren Rändern feiner Ziegenkäse trieft. Aus der Tiefkühltruhe geholt, nicht selbst komponiert. Auch sie, die freundliche Wohlfahrtsmanagerin von 29 Jahren, schwört: „Bald probiere ich es aus, der Frühling kommt bestimmt.“

Dolce Vita auf Deutsch

Der Verlag des Buches, das jede Beachtung verdient, Phaidon aus Berlin, weiß natürlich auch nicht, weshalb sein Bestseller aus dem vorigen Geschäftsjahr so ungenutzt bleibt. Die kalte Jahreszeit, in der umweltbewusste Menschen kein Grünzeug kaufen, das doch nicht schmeckt und aus aller Welt herantransportiert wurde? Der Überfluss an Kochvorschlägen, über 2000 an der Zahl, versperrt den Blick auf das Wesentliche: Wo bekomme ich was zu essen, schnell und lecker? Sicher ist allerdings: „Der Silberlöffel“ war das Kochbuch des Weihnachtsgeschäfts, 39,95 Euro als Ablass dafür, dass man nicht mehr kochen kann. Das Werk war ein beliebtes Geschenk, denn es stammt aus Italien, was dolce vita und ars vivendi suggeriert – und ist ins Deutsche übersetzt worden.

Anders als einschlägige Kompendien von Alfred Biolek oder Jamie Oliver prunkt es nicht, sondern wirbt mit fülliger Schwere. Gefühlte 4 Kilogramm wiegt es, das Papier ist dünn, weil die knapp 1.300 Seiten sonst nicht aus dem Buchladen wegzuschleppen wären. Was es von allen Kochbüchern unterscheidet, ist eine gewisse Kargheit der Aufmachung. Da wirbt kein älterer Herr, da schreit einem auch kein pseudocooler Britpop-Macker entgegen. „Der Silberlöffel“ ist, so das Selbstlob des Verlags, „die Bibel der echten italienischen Küche“ – eine kanonische Schrift, keine Groschenliteratur der Kochlöffelästhetik.

Und mit heiligen Schriften scherzt man nicht, sie sind frei von Spaß und Lebenswandelattitüden. In der Einleitung des „Silberlöffels“ heißt es entsprechend aufrecht: „Essen ist in Italien eine ernste Sache.“ Die Fotos in diesem Brikett sind, wird im Vorwort beschworen, „ausschließlich bei natürlichem Tageslicht aufgenommen“ – also keine Lichtbildnerei wie auf den Foodseiten von Illustrierten, die alle Gerichte so verführerisch ausleuchten, als sei Nahrung ein Nebensujet des Pornofilms. Der ganze „Silberlöffel“ ist, so gesehen, das perfekte Accessoire für die ökobewusste Mittelschicht und ihren Nachwuchs, der einerseits auf eine gute Moral für alle Menschen hält, sich selbst aber am liebsten nach einem Alltag sehnt, der wenig nach Ikea aussieht, viel nach Manufactum und auf jeden Fall keine Schrankwand in Eichenfurnier duldete. Man will das sogenannte Echte – und prallt damit immer auf die wirkliche Welt, denn das Authentische, das echt sein möchte, ist etwas aus einer Welt von gestern: als alles, so die nostalgische Fantasie, irgendwie besser war.

Aroma von Echtheit

„Der Silberlöffel“ verströmt insofern bewusst das volle Aroma von Echtheit, die erst durch kleine Pannen beglaubigt wird. Mit Fotografien also, die selbstverständlich eher matt denn glänzend aussehen, denn Glamour mag man nicht, lieber den Blick auf die eigene Begrenztheit des Könnens und all die „kleinen Unvollkommenheiten, die am heimischen Herd zubereitete Gerichte so ansprechend machen“. Oder anstrengend? Die Welt der gebobenen Hobbykochkunst braucht ja das Gefühl, es nie zu Perfektion bringen zu können – aber Perfektion ist die Elle, an der Maß genommen wird.

Und diese Haltung zur Welt, die man für gründlich verkehrt hält, der man aber mit gutem Essen ein Schnippchen schlagen möchte, ist ja gerade sehr in Mode. Man verzweifelt an den politischen Umständen, an der chemischen und verlogenen Nahrung, wo man doch die Wahrheit liebt – und sucht persönliche Wege aus dem Schlamassel. Eine Mentalität, die überhaupt erst die Gastrobewegung Slow Food hervorgebracht hat. Deren Credo: Das besinnungslose Publikum isst wie eine Herde Schweine und will sich nicht abbringen lassen vom bequemen Einkaufen bei Discountern – aber wir gönnen uns Zeit und Kenntnis bester Zutaten und Küchen.

Der französische Soziologe Jean-Claude Kaufmann hat in seiner „Soziologie vom Kochen und Essen“, als Buch erschienen unter dem Titel „Kochende Leidenschaft“ (UVK-Verlag, Konstanz 2006) dieses wütende Handeln gegen die flüchtige Moderne skizziert: „Kraft der Arbeit mit den Händen kann man auch in die Gegenwart eintauchen, was ein bestimmtes Zeitgefühl zur Folge hat. Die Arbeit mit den Händen dehnt die Zeit, sie gebietet ihrem Verrinnen Einhalt, zerstört ihre mühselige Tyrannei.“ So liegen die Dinge also: Der Hobbykoch, der nicht einmal Nudeln fertig kaufen würde und nichts gegen die Vergeudung ganzer Urlaubstage für die Vorbereitung eines zehngängigen Menüs für engste Freunde am eigenen Tisch hat – er ist ein Rebell gegen die Hetze des Alltags. Sein Hobby ist nur ein Genuss verheißender Vorwand: um der eigenen Rastlosigkeit ein inneres Kloster zu verschaffen.

Schöner für ihn noch ist, dass sein Steckenpferd, um das schöne altmodische Wort für „Hobby“ zu wählen, niemals von allen so nachgeahmt werden will. Niemand ist ja gezwungen, sich beim Kochen und Einkaufen auszukennen – und dass die meisten keine besondere Freude an dem Handwerk der Nahrungszubereitung haben, ist auch daran abzulesen, dass der Markt für Fertigprodukte stetig wächst, auch im Ökosegment. Wichtiger darf freilich genommen werden, dass der Connaisseur glaubt, die graue Masse, als die er alle sieht, säße lieber am Trog und schmatze schlimmes Futter in sich hinein. Ein elitäres Denken, das Männern hervorragend liegt – weshalb sonst sind fast alle Spitzenköche, die Idole dieses ersten Jahrzehnts, männlich, abgesehen von Sarah Wiener?

Männer erkennen in ihnen, in all den Schuhbecks und Lafers, jene Wesen, die können, was sie selbst nicht vermögen. Geschlechtswesen, die Langsamkeit und Genuss in einem verheißen – ein Aufruf zum anderen Leben, den auch der „Silberlöffel“ ausgiebig ausspricht. Männer, die sich nach Entschleunigung sehnen, erkennen also im Kochen einen Platz, der sie zu besseren Menschen macht. Ein Trugschluss oft. Und welch Ironie, bedenkt man, dass die italienische Originalausgabe des „Silberlöffels“ 1950 auf den Markt kam – als Mitgift für alle Bräute. In einer Zeit, in der auch die italienische Frau nicht mehr nur Mutter sein wollte und sein konnte und in Industriebetrieben arbeiten musste.

Ambitionierte Hobbyköche

Und wer schon einmal gesehen hat, wie ein Mahl von einem ambitionierten Hobbykoch zubereitet wird, kriegt die Furcht nicht mehr aus dem Magen: als ob einer um sein Leben brutzelt, wiegt und wägt, abschmeckt und verfeinert. Ingenieurhaft, nichts nebenbei, alles hochkonzentriert und Respekt abnötigend. Nichts an solchen Figuren ist entspannend – sondern alles auf lecker, leckerer und am leckersten gestimmt.

Insofern ist der „Silberlöffel“ tatsächlich eine „Bibel“. Wie die echte, authentische Heilige Schrift ist dieses Kochbuchstück eine Verheißung für das Leben im Hier und Jetzt, gespeist aus den Überlieferungen von gestern. Ein Hilfsmittel mit Tipps und Tricks für den Alltag, mit Interpretationsmöglichkeiten und der Erlaubnis zur Variation. Eine Schrift, von der alle, die bei Trost sind, wissen, dass ihr nachzuleben nicht eins zu eins gelingt, und besser nicht gelingen soll: Aber die Lektüre lässt träumen, gestattet einen seufzenden Blick zurück ohne Zorn. So träumt es sich vom Paradies auf Erden, vom Zorn auf Zöllner und Zeloten, von der Wut gegen alle Pharisäer der gehobenen Lebensart. Der „Silberlöffel“ erhebt ebenso den Zeigefinger, er mahnt: Kauf nicht schlecht, geize nicht mit Gutem, achte auf alle Zutaten, gönne dir ein langsames Mahl, fühl dich in der Zeit verloren – gut.

Und so wie früher die Frauen in der Gemeinde zu schweigen hatten, lernen Männer jetzt, über Leistungskochen die Zubereitung von Speisen nicht für Weibergedöns zu halten oder für das Selbstverständliche, das Muttern so macht, wenn sie schon Mutter ist. Mamas Schweinebraten war einfach der beste – und ihre Söhne können den auch!

Alles von feinster Qualität

Im Übrigen sind 91 Rezepte – ausgewählt und nachgekocht zwischen Dezember und März – wirklich von feinster Qualität, versprochen. Man begreift alles, nichts misslingt, alles wie auf dem Verkehrsübungsplatz vor dem Führerschein: übersichtlich. Man muss nur die Widersprüche des „Silberlöffels“ ignorieren. Einen zum Beispiel wie das Gebot, nur regionale Produkte zu kaufen – und es nicht zu können, schon weil man nicht als flanierender Rentier oder Berufserbe in Umbrien, im Friaul oder auf Sizilien lebt. Vieles lässt sich improvisieren, Steckrüben aus Mecklenburg statt weißer Rübchen aus der Lombardei. Und statt Tauben vom Händler um die Ecke geht Geflügel ökologischer Qualität auch, notfalls auch solches ohne Ökosiegel.

Verabschieden muss man sich auch von der Idee, dass ein Kochbuch die Verpflichtung zur Praxis bedeuten würde. Man kann es auch in der Küche stehen haben, eingerahmt von der Flasche kaltgepresstem Olivenöl und dem Balsamico, dem echten, ohne Zuckercouleur und E-Stoffe. Oder neben dem Herd liegen lassen. Wirkt einschüchternd. Man muss nur einige Seiten mit mehligen oder fettigen Fingern anknittern – sieht hübsch benutzt aus. Bibeln wie der „Silberlöffel“ haben ein großes Dekorationspotenzial. Nur Staub von ihnen abzuwischen sollte man nicht vergessen.