: Im Takt in Trance
Einmal im Jahr feiert Singapurs bescheidene Hindu-Gemeinde Thaipusam – das Fest der Reinigung. Im Namen Gottes gehen Gläubige bis an ihre physischen Grenzen. Durchhaltevermögen ist gefragt
VON FRANZ LERCHENMÜLLER
Der Mann wankt. Sein Gesicht unter der nussbraunen Haut ist aschfahl. Seine Augen glänzen. Das runde, eineinhalb Meter hohe Eisengestell drückt schwer auf seine gepolsterten Schultern. Wippende Arme aus Blech ragen rundum aus diesem „Kavadi“. Büschel von Pfauenfedern, glitzernde Götterbilder, Papierblumen und Glöckchen sind darauf zu einer farbigen, überdimensionierten Krone angeordnet.
Aber das ist nicht alles: Von der Eisenkonstruktion führen Dutzende von Stahlpfeilen zu seinem nackten Rücken und seiner Brust. Dort sind sie akkurat durch die Haut gespießt und sorgfältig verschraubt. Ein richtiges Fischgrätmuster und dennoch kein Tropfen Blut zu sehen. Zusätzlich hat er sich die Zunge aus dem Mund gezogen und einen silbernen Spieß von oben nach unten durchgerammt. Ein anderer steckt waagerecht durch beide Mundwinkel. So schleppt sich der Mann schon seit acht Stunden durch Singapur. Barfuß. Mit weiß angetrockneter Zunge. Vier Kilometer lang.
„Er ist tief in Trance. Er schafft es“, sagt ein Inder hinter dem Absperrgitter. „Wer bis zur Tank Road gekommen ist, hält auch noch die letzten Meter bis zum Chettiar-Tempel durch. Die, die ihre Vorbereitungen nicht ernst genommen haben, sind schon heute Morgen umgekippt, als die Priester ihnen die Haken in die Haut bohrten.“
Chandyar ist 35, stammt aus Singapur, wohnt und arbeitet aber in Japan. Er besucht seine Familie, um wieder einmal beim Thaipusam-Fest dabei zu sein. Thaipusam ist das höchste Fest der Hindus. In Indien, Malaysia und Singapur ehren die Gläubigen Gott Murugan, den Gott der Kraft, der Tapferkeit und der Schönheit. In Singapur tragen sie ihn zu diesem Zweck von Tempel zu Tempel auf ihren Schultern. „Manche danken Gott, weil sie eine Operation überstanden haben“, sagt Chandyar. „Andere feiern eine glückliche Heimkehr oder erhoffen sich Erfolg für das neu eröffnete Geschäft.“
Es ist Nacht, eben noch hat es geregnet. Der Boden dampft, die warme Luft riecht nach Räucherstäbchen, nach Kokosnüssen und den Jasminblütenkränzen, die die Frauen tragen. Tausende nackter Füße haben die nasse Erde knöcheltief zu brauner Schmiere gerührt. Langsam ziehen die Männer weiter. Vorwärtsgetrieben von ihrem Willen, den Trommeln, dem Klatschen der Zuschauer.
Jungen von zehn, zwölf Jahren sind dabei, mit kleinen Kavadis, ohne Eisen in der Haut. Kräftige Burschen mit Käfigen, die bis zu 20 Kilo wiegen. Und schmächtige Männer, die, statt ein Gestell zu tragen, einen Wagen mit einem Altar aus rotem Samt hinter sich herziehen. An Silberketten, die mit Fleischerhaken an ihrem Rücken hängen. Manche wirken ausgezehrt und in sich gekehrt. Andere tanzen mit ihrer Last und blicken stolz in die Zuschauermenge. Religiöse Inbrunst gepaart mit einem männlichen Ehrgeiz.
Kalai Vanen, ein 37 Jahre alter Versicherungsvertreter, humpelt an Krücken über die Straße und hat sich 108 daumengroße Milchkännchen an Brust und Rücken gepinnt. Vor acht Jahren hat er sein linkes Bein durch Krebs verloren. Aber er lebt noch. „Dafür will ich Gott danken“, sagt er einem Reporter von The Straits Times. Das Gefühl, dass ihm bei jeder Bewegung das Fleisch in Streifen vom Körper gerissen wird, nimmt er in Kauf. Jeder Kavadi-Träger wird begleitet von einer Gruppe von Freunden. Sie singen, stampfen, zerschlagen Kokosnüsse als Opfer auf dem Weg. Frauen folgen besorgt ihren Männern.
„Thaipusam ist das Fest der Reinigung“, sagt Chandyar. „Deshalb haben sie alle eine strenge Vorbereitung hinter sich: dreißig Tage vegetarische Diät, keinen Sex, keinen Alkohol, keine Zigaretten, tägliche Gebete im Tempel.“ Es klingt bewundernd und doch auch eine Spur amüsiert. Nacheinander, Schritt für Schritt, ziehen die Männer in den Tempel ein. Sie drehen sich dreimal im Kreis und verlassen den heiligen Raum durch den anderen Ausgang.
Draußen im Park nehmen die Begleiter ihnen das Eisengestell ab. Sie ziehen die Spieße aus der Haut und reiben einen Brei aus Kokosmilch und Asche darauf. Es bleibt kaum mehr als ein paar kleine Pusteln. Kinder spritzen einen älteren Mann, der bewusstlos umgekippt ist, mit einem Wasserschlauch wach. Eine Frau im himmelblauen Sari bittet zwei junge Burschen, ihr in die Ohren zu schreien: Hinweg mit bösen Geistern und Gedanken! Überall werden Kavadis auf kleine Lastwagen verladen, Männer und Frauen fahren zurück in die Vorstädte, glücklich, stolz. Sie haben alles Böse hinter sich gelassen.
„Die Chinesen haben ihr Neujahr, die Moslems Hari Raya Puasa, das Ende des Ramadan. Thaipusam ist unser Fest“, sagt Chandyar und zählt sich nunmehr ganz selbstverständlich dazu. Thaipusam ist der Tag im Jahr, an dem die Hindus sich als wirkliche Gemeinschaft fühlen – und als anerkannter Teil Singapurs. Nur knapp 7 Prozent der Bevölkerung machen sie aus, gegenüber 78 Prozent Chinesen und 14 Prozent Malaien – doch heute wird die Straße für sie gesperrt.
„Vielleicht hat es aber auch noch eine ganz andere Bedeutung“, sagt Chandyar nachdenklich und blickt auf die dunklen Schemen der Hochhäuser, die über dem Menschengewühl, den Lichtern und den bunten Figuren am Tempel aufragen, bedrohlichen Felsen gleich. „Dorthin müssen die meisten Leute morgen wieder zurück. An die Computer, zu den Tabellen, in die Business-Meetings. Vielleicht ist Thaipusam auch eine Art Ausbruch: für einen Tag raus aus der strikten Disziplin.“ Vielleicht ist die glatte Haut dieser Stadt dünner, als man glaubt.
Das Thaipusamfest wird immer im tamilischen Monat Thai gefeiert. Dieser richtet sich nach dem Mondkalender und fällt in den Januar oder Februar unserer Zeitrechnung.