: „Und wer leert die Mülltonnen?“
ANDREA NAHLES, 36, sitzt im SPD-Vorstand und ist Mitglied des Bundestags. Sie gehört dort dem Ausschuss für Arbeit und Soziales an. War eine Hauptkritikerin von SPD-Kanzler Schröders Agenda-Politik. Geboren und aufgewachsen in der Eifel.
INTERVIEW HANNES KOCH UND KATHARINA KOUFEN
taz: Frau Kipping, wenn es nach Ihnen ginge, bekäme jeder Bundesbürger 800 Euro pro Monat vom Staat – egal, ob er arbeitet oder nicht. Bricht bald das Paradies aus?
Katja Kipping: Das bedingungslose Grundeinkommen für alle ist ein wunderbares und realistisches Projekt. Dafür lohnt es sich zu streiten. Am Anfang sollte jeder 800 bis 1.000 Euro pro Monat bekommen, plus Krankenversicherung und regionalisiertes Wohngeld. Und zwar ohne Bedürftigkeitsprüfung und ohne Arbeitszwang.
Frau Nahles, soll sich die ehemalige Arbeiterpartei SPD vom protestantischen Arbeitsethos lossagen?
Andrea Nahles: Dieses Grundeinkommen wird es so niemals geben. Man kann ein Sozialsystem nicht gegen das Gerechtigkeitsempfinden der Mehrheit der Bevölkerung organisieren. Wer Leistungen von der Gemeinschaft erhält, muss auch eine Gegenleistung bringen. Sonst geht die Ausgewogenheit von Geben und Nehmen verloren.
Kipping: Viele Menschen empfinden Hartz IV als Entwürdigung und Gängelung. Sie verlangen nach etwas anderem.
Nahles: Es ist für mich keine Verletzung der Würde eines Menschen, wenn er seine Bedürftigkeit nachweisen muss, um Leistungen der Gemeinschaft zu erhalten. Der Kerngedanke von Hartz IV war und ist richtig. Kein Mensch darf auf alle Zeiten in die Sozialhilfe abgeschoben werden, sondern jedem muss man die Chance auf einen Arbeitsplatz eröffnen.
Kipping: Der Arbeitszwang bei Hartz IV hat zum Beispiel dazu geführt, dass Hausfrauen in Stripbars vermittelt wurden und sich dort aus lauter Angst vor drohenden Kürzungen auch gemeldet haben. Ich kenne auch Leute, die wurden im Winter zum Unkrautjäten geschickt.
Nahles: Das ist unakzeptabel. Ja, der Grundgedanke von Hartz IV ist teilweise verschüttet. Das Fordern überwiegt, das Fördern kommt zu kurz. Vielen Menschen wird keine realistische Perspektive auf einen neuen Arbeitsplatz geboten. Wir arbeiten daran, das zu verbessern. Die Idee einer bedarfsorientierten Grundsicherung bleibt aber richtig.
Kipping: Nein, Hartz IV ist im Kern falsch. Dieses System wird dominiert durch einen falschen Leistungsbegriff. Sie, Frau Nahles, Sie verstehen unter Leistung immer nur Erwerbsarbeit. Dabei ist nicht jede Erwerbsarbeit, beispielsweise das Abholzen des Regenwaldes, automatisch gut für die Gesellschaft. Während andere Tätigkeiten jenseits der Erwerbsarbeit – politisches Engagement oder Erziehungstätigkeit – einen sehr wichtigen Beitrag zum Gemeinwohl leisten.
Nahles: Das ist kein Grund, 40 Millionen Menschen staatliche Leistungen zu geben, obwohl sie die gar nicht brauchen. Wer denkt an diejenigen, die im Schweiße ihres Angesichts für wenig Geld arbeiten und trotzdem Steuern zahlen?
Kipping: Vor Jahrhunderten war es unvorstellbar, Wege zu benutzen, ohne Wegezoll zu zahlen. Inzwischen ist es eine Selbstverständlichkeit, dass jeder die öffentliche Infrastruktur kostenlos in Anspruch nimmt, egal ob er faul oder ein Workaholic ist. Für mich gehört im 21. Jahrhundert eine finanzielle Grundabsicherung für alle genauso dazu wie die freie Benutzung von Straßen.
Was soll daran schlecht sein, Frau Nahles?
Nahles: Die Erwerbsarbeit muss zentral bleiben für die Organisation unseres Sozialstaates. Das Ziel der Vollbeschäftigung dürfen wir nicht aufgeben.
Kipping: Auch mir ist klar, dass erzwungene Erwerbslosigkeit ein Problem darstellt. Doch ich bin gegen eine Heilslehre, die den Menschen heute die Teilhabe verwehrt, weil irgendwann mal die Vollbeschäftigung kommen soll. In der DDR hieß es, nach dem real existierenden Sozialismus kommen wir zum Kommunismus. Dann wird alles gut. Jetzt erzählt man den Leuten: Jenseits des tiefen Tals der Massenarbeitslosigkeit erreichen wir irgendwann das Goldene Zeitalter der Vollbeschäftigung. Es ist falsch, die Leute immer auf später zu vertrösten.
Nahles: Da haben Sie recht! Deshalb halte ich daran fest, dass jeder im Hier und Jetzt das Recht auf einen Arbeitsplatz behält. Mit Ihrem Grundeinkommen würden wir vielen Menschen den quasi offiziellen Status legitimierter Arbeitslosigkeit verleihen. Die Mehrheit der Menschen will aber arbeiten und etwas für andere tun, etwas produzieren, das Nutzen und Anerkennung bringt. Dieses Recht auf Teilhabe aller an der Gesellschaft stellen konservative Politiker infrage. Wenn Thüringens CDU-Ministerpräsident Dieter Althaus oder dieser Drogerieunternehmer Götz Werner für das Grundeinkommen plädieren, fordern sie in Wirklichkeit eine Exklusionsprämie. Die wollen einen neuen Niedriglohnarbeitsmarkt schaffen. Das Grundeinkommen wäre dann so eine Art Kombilohn, auf den die Unternehmen aus der eigenen Tasche nicht mehr viel draufpacken müssten.
Frau Kipping, hält das Grundeinkommen die Armen in ihren realen und mentalen Ghettos fest, anstatt sie daraus herauszuholen?
Kipping: Wenn Andrea Nahles mich mit Leuten wie Althaus in einen Topf wirft, diskutiert sie gegen ein Phantom. Das Grundeinkommen, so wie es mir vorschwebt, ist eine Demokratiepauschale. Es schließt Menschen nicht von der Teilhabe an der Gesellschaft aus. Im Gegenteil: Es holt die Ausgeschlossenen in die Gesellschaft zurück.
Nahles: Ihre Vorstellungen in Ehren, aber die zählen am Ende nicht. In der Realität wirkt es anders: Man zahlt den Leuten Geld, damit sie endlich vom Arbeitsmarkt verschwinden.
Kipping: Im Gegenteil. Wenn jeder 1.000 Euro im Monat sicher bekommt, werden viele Beschäftigte ihre Arbeitszeit reduzieren, Jobs werden frei. Durch das Grundeinkommen wird Arbeit umverteilt. Das Recht auf Arbeit darf nicht den Zwang zur Arbeit einschließen. Die Versammlungsfreiheit bedeutet ja auch nicht, dass man gezwungen werden kann, sich zu versammeln.
Nahles: Wer würde denn in Ihrer schönen Welt den Müll entsorgen? Das ist einer der härtesten Jobs, den wir in diesem Land haben.
Kipping: Manche Arbeitsplätze müssten natürlich besser bezahlt und attraktiver werden, beispielsweise durch kürzere Arbeitszeiten.
KATJA KIPPING, 29, ist stellvertretende Vorsitzende der Linkspartei.PDS und Mitglied des Bundestags. Hartz-IV-Gegnerin und sozialpolitische Sprecherin der Fraktion. Geboren und aufgewachsen in Dresden. FOTOS: BERND HARTUNG
Frau Nahles, verstehen wir Sie richtig: Mit der Drohung von Armut und Arbeitslosigkeit hält der Staat den Druck aufrecht, damit manche Beschäftigte die miesen Jobs machen?
Nahles: Natürlich nicht. Aber ich kenne eine ganze Reihe von Schuftern, die hätten Angst, wenn sie Frau Kipping hören würden. Leuten, die von Rationalisierung bedroht sind, muss man doch etwas anbieten, wo sie sich auch später noch einbringen können.
Kipping: Ihre Logik bedeutet, dass wir, damit es genug Arbeit gibt, alle Autos abschaffen und durch Sänften ersetzen.
Nahles: Nein, ich plädiere nicht für den Rückschritt in die bäuerliche Gesellschaft. Aber ich weiß: Ihr Grundeinkommen führt zu einem System der Alimentierung bestimmter Schichten – ich benutze diesen Begriff bewusst. Die Kreativen in den Großstädten wird das befriedigen. Verzeihung: Ich gehe von den Leuten bei mir im Dorf in der Eifel aus. Die Menschen dort wollen und brauchen einen bezahlten Job, der sie ernährt.
Kipping: Allen Versprechungen zum Trotz ist es mit der bisherigen Politik nicht gelungen, die erzwungene Erwerbslosigkeit abzubauen. Durch ein Grundeinkommen würden die ärmeren Haushalte mehr Geld zur Verfügung haben. Dank dieser Ankurbelung der Binnenkaufkraft könnten dann auch neue Stellen entstehen.
Frau Kipping, warum sollten Langzeitarbeitslose, die dank des Grundeinkommens sozial abgesichert wären, sich noch anstrengen, selbst einen Job zu finden?
Kipping: In der Hängematte zu liegen ist auf die Dauer doch ziemlich langweilig. Aber natürlich reicht es nicht, das Grundeinkommen einzuführen. Wir brauchen auch ein Bildungssystem, das Menschen ermuntert, aus eigenem Antrieb tätig zu werden und nicht nur zu lernen, weil eine Klausur bevorsteht.
Nahles: Mein Vater ist Maurer. Das macht er sehr gerne. Er produziert etwas, das er vorzeigen kann. Er fährt mit mir durch die Stadt und sagt, das habe ich gemacht, dort habe ich gearbeitet. Das ist befriedigend für ihn. Arbeit ist Sinn. Den gibt es auch außerhalb der Erwerbsarbeit, ja. Aber für viele Menschen ist Arbeit, auch harte Arbeit, sehr zentral im Leben.