: Bretter, die das Leben bedeuten
Bernd Schulz pendelt. Zwischen Sommer und Winter, zwischen Paros in Griechenland und Kreuzberg. Seit 27 Jahren schon. Er ist Surflehrer und Künstler. Er kann essen, trinken und fluchen, dass selbst die Griechen neidisch werden. Und nur manchmal träumt er von einem ganz normalen Leben in Berlin
VON HANS W. KORFMANN
Es muss Ende der Siebziger gewesen sein, als die Griechen ihn zum ersten Mal sahen. Er unterschied sich kaum von den anderen langhaarigen Langzeiturlaubern, nur das Brett unter seinem Arm zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. So ein Brett hatte noch keiner gesehen, auch Grigoris Loridis nicht, der immerhin einige Jahre in Kanada gearbeitet hatte, weil er nichts anderes als dieses unfruchtbare Stück Sand am Meer geerbt hatte.
Eine gewisse Ahnung aber hatte Loridis, als der Langhaarige mit dem Brett und dem Segel ins Wasser stieg. Und ein Gespür fürs Geschäft hatte er auch. Seit die Hippies den Strand „Golden Beach“ nannten, sah er das dürre Land nicht mehr mit den Augen des Ackerbauern, sondern mit denen des Hotelbesitzers. Schon 1976 hatte er eine kleine Pension mit Küche in den vermeintlich goldenen Sand gepflanzt, aber die Hippies schliefen lieber am Strand und kochten ihr eigenes Süppchen.
Bis eben Bernd Schulz kam. Loridis bot ihm an, die komischen Bretter im Schuppen zu deponieren. Niemand ahnte, dass der aus Norden wehende „Meltemi“ einmal Surferherzen höher schlagen lassen würde. 27 Jahre ist Schulz jetzt da! Mit seiner Surfschule, gleich vor den Zimmern des alten Grigoris. Er kann essen, trinken, erzählen und fluchen, dass selbst die Griechen neidisch werden. Aber er ist im Grunde Berliner geblieben, nie Grieche geworden. Immer in diesen Jahren dachte er an Berlin.
Und trotzdem entschied er sich, als ihn nach zehn Jahren ein Freund fragte, ob er nicht diese Jazzkneipe in Schöneberg übernehmen wolle, wieder für die Insel. Und als der Freund ihn dann fragte, ob er vielleicht Geld für neue Bretter brauche, unterschrieb Schulz auf einem Bierdeckel eine Quittung über 30.000 Mark. Schon zwei Jahre später hatte er alles zurückgezahlt. Sonst stünde er vielleicht heute noch hinterm Tresen des Robbengatter – um die Schulden abzuarbeiten. Und „lebenslänglich hinterm Tresen“, genau das hatte er vermeiden wollen.
Schulz, der frühere Wirt von der Nulpe und vom Leierkasten. Diesen unvergessenen Kneipen, von denen sie noch immer erzählen, als wäre es gestern gewesen. In denen Michael Stein, Bruno Ganz oder Günter Grass auftauchten, in denen die Bachmann einen Abend lang die Schwermütigkeit verloren haben soll. Dort stand Schulz hinter dem Tresen, jede Nacht. Bis er sich diese Künstlertypen einmal genauer ansah und dachte: „Ey, Alter! Du willst doch nicht so werden wie die? Du musst hier raus!“
Also fuhr er zum Wannsee, kaufte sich eines der ersten Surfbretter in der Stadt – „mit grünem Segel, weil Grün ist die Hoffnung!“ – und „fiel einen Tag nur ins Wasser“. So lange, bis der Bademeister aus seinem Boot rüberbrüllte: „Jetzt hör endlich auf mit dem Scheiß, du Vollidiot!“
Aber Schulz hatte sich schon mit ganz anderen Typen als Berliner Bademeistern angelegt. Er surfte, bis er segelte. Und bis ihn eines Tages der Besitzer eines Lokals ansprach, das den griechischen Namen Orpheus trug, in dem es aber immer nur Pizza gab: „Hör mal, Bernd, du kannst doch surfen? Was hältst du davon, eine Surfschule aufzumachen?“
Und weil es die Zeit war, als aus Träumen noch Wirklichkeit werden konnte, fuhr er 1979 mit Klaus Seyfert vom Orpheus nach Paros, mietete für ein paar Mark ein Büro und schrieb selbstbewusst darüber: Surf- und Yachtclub Paros. Damit das Ganze auch funktionierte, zogen sie den Vermieter des Büros gleich mit an Bord der zukünftigen Surfbrettflotte. Als der aber immer mehr Geld für seinen Namen unter der Konzession wollte, nahm Schulz ihn nach Nulpenwirtart beiseite und sagte: „Du hältst jetzt den Mund. Sonst kriegste eins auf die Fresse!“
Die Griechen lieben diese klare Sprache. „Es gab nie wieder Probleme mit dem Mann.“ So hat Schulz sich immer durchmanövriert. Inzwischen ist der Surfer, den einst der Spott des Bademeisters verfolgte, 60 Jahre alt und noch immer „in 25 Minuten auf Naxos. Mit dem Brett.“ Nicht unterzukriegen. Sechs Stunden trieb er im Sturm mit seinem Fiberglasstück auf den Wellen, als im Hafen die Fähre kenterte und die Menschen ertranken. Schulz rettete sich auf einen Felsen. Schulz gibt so schnell nicht auf.
Er stand gerade friedlich am Tresen der Nulpe und zapfte ein Bier, da kam plötzlich „so ein Riesenhirte“ herein. Schulz zapfte unauffällig weiter, aber der Mann kam gleich auf ihn zu. Schulz dachte: „Muss das denn sein jetzt?“, aber dieser Frankenstein setzte sich auf den Hocker vor dem Zapfhahn und sagte nur ein Wort: „Bier!“ Schulz schob ein Bier rüber. Frankenstein kippte es runter und sagte noch einmal: „Bier!“ Schulz wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Das ging so zehnmal, ich dachte, das kann doch nicht sein. Und dann steht der einfach auf und geht!“
Schulz nahm allen Mut zusammen und rief: „Du musst noch zahlen!“ – „Muss ich nicht!“, sagte Franky. „Musste doch!“, sagte Schulz. Da kam Franky zurück, nahm den randvollen Aschenbecher und kippte ihn ins Waschbecken mit den sauberen Gläsern. Schulz sagte sich: „Wenn ich den verfehl, bin ich tot!“ – und schlug zu, quer übern Tresen, genau auf die Nase. Frankenstein fiel um, Schulz zog ihn auf die Straße und lehnte ihn an die Wand. „Wie im Film.“
Irgendwann stand Frankenstein wieder auf, Schulz dachte, sein „Stündlein hätte geschlagen“. Aber dann ging Frankenstein einfach nach Hause. Erst am nächsten Morgen war er wieder da. Er war jetzt gesprächiger und sagte: „Auf dich hab ich gewartet!“ Schulz antwortete: „Ich hab keine Zeit jetzt, ich muss die Getränke auspacken, siehste ja.“ Aber Frankenstein gab keine Ruhe, bis sie sich Aug in Aug gegenüberstanden. Und dann sagte Frankenstein etwas Unvergessliches: „Ich muss doch noch meine Zeche bezahlen!“
Solche aufregenden Typen gibt es auf Paros nicht. Trotzdem wird es im Sommer turbulent. Da bleibt nicht mal mehr Zeit zum Tavli mit Jorgos, der sich für den Champion im Backgammon hielt. So wie alle Griechen. Schulz sagte: „Na komm, ich mach dich fertig!“ Inzwischen gibt es zwei T-Shirts, ein rotes und ein grünes. Auf dem grünen steht: „Ich bin der Meister im Tavli“, und auf dem roten: „Ich kann nicht Tavli spielen.“ Meistens trägt Schulz das grüne Trikot.
So kann das Leben ganz angenehm sein auf der Insel. Sogar mit dem alten Grigoris, diesem Dickschädel. 27 Jahre hat er herumgemeckert, aber jetzt wird er langsam leiser. Er weiß, er braucht den Deutschen. So wie Schulz den Griechen braucht. Damit die Youngster gleich vom Bett aus aufs Brett können.
Sogar der Polizeichef von Paros begrüßt Schulz lachend, wenn er nach der Winterpause wiederauftaucht. Obwohl der Deutsche ihm schon richtig Sorgen bereitet hat: Schulz wollte mit seinen Schülern in See stechen, da tauchte diese riesige Jacht auf und legte sich genau in den Weg. Schulz rief dem Senior mit seiner Liebsten zu, er möchte sich doch bitte wieder aufs offene Meer hinaus verziehen. Der Grieche entgegnete, dass er sich von einem Deutschen nichts sagen lasse.
Das Gespräch wurde gerade spannend, da sah sich Schulz von Polizisten umzingelt, und sein Polizeichef nahm ihn beiseite und sagte: „Bernd, jetzt haste Scheiße gebaut. Jetzt kann ich dir auch nicht mehr helfen.“ Schulz verstand sofort, dass die Sache ernst war, dass sein Surfparadies auf dem Spiel stand. Wie hätte er ahnen können, dass er an den Busenfreund des griechischen Verkehrsministers geraten war und dass die Frau an Bord Janna Angelopoulou war, die Organisatorin der Olympischen Spiele.
Bernd Schulz kann viele solcher mediterranen Geschichten erzählen. Er erzählt sie gerne. Aber wenn der Winter kommt, dann hält ihn nichts mehr. Dann zieht es ihn nach Kreuzberg. Dann verstaut er die 60 Bretter und fängt fieberhaft an, zu schnitzen und zu malen. Und wenn dann im Yorckschlösschen die sogenannte Bilderversteigerung stattfindet, wo sich all jene wiedertreffen, die früher im Leierkasten saßen und trotzdem nie zu berühmten Künstlern wurden, dann ist auch Bernd Schulz wieder dabei. „Weihnachten, da muss ich hier sein.“
Da sind zu viele Erinnerungen. Erinnerungen an Silvester, als Schulz keine Band mehr fand, und dann kam Wolfgang Rügner und sagte, „er hätte ’ne Idee“. Zwei Stunden später hörte man draußen auf der Straße Musik, da kamen sie blasend und trommelnd durch die Straße gezogen. Oder die Erinnerung an dieses Mädchen, „so eine hübsche, wohlerzogene …“, die den braungebrannten Surflehrer plötzlich in der kleinen Wohnung in Berlin überraschte, und die anschließend fragte, wo denn das Bad sei. Als Schulz sagte, „’ne Treppe tiefer, auf’m Gang“, da war sie „auch schon wieder weg“.
An all diese Berliner Geschichten denkt er in Griechenland. Immer öfter steht er am Golden Beach und grübelt. So wie er einst hinter dem Tresen der Nulpe stand und grübelte und wegwollte. Steht da und murmelt in seinen längst grauen Seglerbart: „Alter, jetzt hau endlich ab nach Berlin. Weil da gehörste hin.“
So pendelt er, zwischen Sommer und Winter, Paros und Berlin, seit 27 Jahren schon. Und träumt manchmal von einem ganz normalen Leben, einer kleinen Wohnung mit Innentoilette. Seinem letzten Job als Zapfer im Yorkschlösschen. Oder so einer Kneipe wie der Nulpe. Mit Schulz hinterm Tresen. Und allen alten Freunden wieder davor. Als er kürzlich einige von ihnen traf, nach einem halben Leben, und als sie von Hannes Wader, Bob Style, Werner Lämmerhirt und all den andern Legenden des Leierkastens zu erzählen begannen, da kam Schulz die Idee, sie alle noch mal anzurufen. Einen Abend den Leierkasten auferstehen zu lassen. Am 26. März. In der Nacht der „Vergessenen Helden“ im Yorkschlösschen.
Doch wenn im April dann die Zugvögel aus dem Süden heimkehren, wenn der erste warme Wind durch die Stadt weht, der sogar mitten in Kreuzberg manchmal nach Meer schmeckt, dann wird er unruhig. Dann denkt er an die Bretter und Grigoris und das Tavli mit Jorgos. Und es ist jedes Mal dasselbe, „es ist jedes Jahr wieder wie ein Aufatmen!“, wenn er dann auf der Fähre steht und der Grieche hinter der Kaffeemaschine, der ihn noch kein einziges Mal angesehen hat, weil im Fernsehen gerade Panathinaikos spielt, vollkommen gelangweilt und als sei nie irgendetwas passiert in all diesen Jahren, fragt: „Zucker?“
Solisten aus der Folk- und Kleinkunstszene Westberlins spielen am 26. März in der „Nacht der vergessenen Helden“. Yorckschlösschen, Yorckstr. 15